Heute meldetet die taz, dass die Einführung eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrags für den Pflege- und Sozialsektor gescheitert ist. Das trifft laut taz über eine Million Mitarbeitende in diesem Sektor.
Der Grund ist laut taz die Angst seitens der Caritas, dass das aus dem Nationalsozialismus kommende kirchliche Sonderarbeitsrecht aufgeweicht werden könnte. Einwände gegen den Tarifvertrag kamen allerdings auch aus der Diakonie.
Der NDR wurde in einem Beitrag (siehe Artikelliste unten) deutlicher: „Tatsächlich zahlten die kirchlichen Arbeitgeber längst quasi nach Tarif. Ihnen ginge es, erklärt Becker, nicht um Probleme mit höheren Kosten. Sie wollten arbeitsrechtliche Sonderprivilegien der Kirchen erhalten. Die Wahrung der tariflichen Selbstbestimmung sei den Kirchen wichtiger, als für soziale Gerechtigkeit in einer Branche zu sorgen, die ihre Beschäftigten bislang nicht verwöhnt hat. Setze ein Tarifvertrag die Standards der Branche, könnte der diese Sonderrechte womöglich eines Tages aushebeln.“
Die Diakonie, die einen Tag später, also am 26.02.2021, einen Beschluss zum Tarifvertrag Pflege fassen wollte, hat gekniffen bzw. versteckt sich hinter der Caritas und verzichtet auf einen Beschluss zum Altenpflegetarif. Ein positives Votum der Diakonie hätte zwar nicht ausgereicht, da beide kirchlichen Verbände zustimmen müssen, um den Tarifvertrag in Kraft zu setzen. Aber es hätte den Druck auf die Caritas erhöht.
Im Folgenden der Artikel der taz:
Tarifvertrag für Pflegende scheitert:Ausgerechnet die Caritas. Ein allgemeiner Tarifvertrag für die Altenpflege schien greifbar – doch jetzt hat sich die Caritas quergestellt. Pflegekräfte sind entsetzt. Von Alina Leimbach | taz, 25.02.2021
Dieser Artikel aus der taz vom 09.03.2021, der am Schluss auch Bezug nimmt auf die hier verhandelten Fragen, macht deutlich, was hier gesellschaftlich auf dem Spiel steht:
Hirten auf Abwegen. Die Caritas sabotiert den Pflege-Tarifvertrag, Kardinal Woelki bremst Aufklärung von Missbrauch. Ulrike Baureithel | Der Freitag, 05.03.2021
Pflegetarifvertrag gescheitert: Danke, Caritas! Was bekommt die katholische Kirche, genauer die Caritas, wohl als Belohnung von den privaten Betreibern in der Altenpflege? Mit ihrem Nein zum Pflegetarifvertrag hat sie verhindert, dass er allgemeinverbindlich wird. Von Gesa von Leesen | Kontext: Wochenzeitung, 03.03.2021
Mindestlohn für Pflegekräfte: Scheinheilig. Dass ausgerechnet die Caritas einen höheren Mindestlohn verhindert, ist ein neuer Tiefpunkt im Umgang mit den Pflegekräften. Ein Kommentar von Charlotte Parnack | Die Zeit, 03.03.2021
Pflege und Löhne: Diakonie drückt sich. Die Dienstgeber in der Diakonie lehnten die Abstimmung über einen Pflegetarifvertrag ab. Damit ist der Branchentarif fürs Erste vom Tisch. Von Barbara Dribbusch | taz, 26.02.2021
Streit um Pflegegehälter: Diakonie verzichtet auf Beschluss zum Altenpflege-Tarifvertrag. Nach dem Beschluss der Caritas am Donnerstag sei ohnehin klar gewesen, dass der Tarifvertrag nicht auf die gesamte Pflegebranche ausgeweitet werden könne, so die Begründung. Die SPD reagiert mit Bedauern auf das Aus des Vorhabens. Von Thomas Hommel | Ärzte Zeitung, 26.02.2021
Pflege: Die von der Kirche machen nicht mit. Ausgerechnet die katholische Caritas verhindert den Tarifvertrag zur Altenpflege. Dabei zahlen die Kirchen sowieso gut und sind große Arbeitgeber. Warum die Ablehnung? Eine Analyse von Maike Rademaker | Die Zeit, 25.02.2021
Altenpflege: Egoistisch. Der Widerstand der Caritas gegen einen bundesweiten Tarifvertrag ist unverantwortlich. Von Benedikt Peters | Süddeutsche Zeitung, 25.02.2021
Altenpflege: Bundesweiter Tarifvertrag gescheitert. Kein Ende der Dumping-Gehälter: Verdi, einige Arbeitgeber und Arbeitsminister Heil wollten höhere Mindestlöhne in der Altenpflege durchsetzen – und scheitern an der Caritas. Von Benedikt Peters und Henrike Roßbach, München/Berlin | Süddeutsche Zeitung, 25.02.2021
Gegen Pläne von Arbeitsminister Heil | Caritas: Vorbehalte gegenüber einheitlichem Pflege-Tarifvertrag. Deutliche Vorbehalte gegen den von Arbeitsminister Hubertus Heil geplanten allgemeinverbindlichen Tarifvertrag für Altenpflegekräfte äußert nun der Caritas-Verband. Die „zentrale Voraussetzung für gute Löhne und Arbeitsbedingungen“ sei ungeklärt. | katholisch.de, 22.02.2021
Stimmen aus Caritas und Diakonie zur Ablehnung der Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrags Altenpflege
Damit bestätigt sich, was ich bereits im Juli 2020 auf diesem Blog schrieb, das nämlich das kirchliche Sonderarbeitsrechts – als Nachwirkung des Nationalsozialismus – katastrophale gesellschaftliche Wirkungen hat. Es wird Zeit, dass beide Kirchen sich von ihrem nationalsozialistischen Erbe emanzipieren!
Antworten auf die von Dieter Beese formulierte kirchenpolitische Positionierung der EKvW zur nationalsozialistischen Herkunft der Dienstgemeinschaft als strukturierendem Konzept des kirchlichen Sonderarbeitsrechts in Deutschland
Dieter Beese war von August 2014 bis Januar 2019 Kirchenrat der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW). In der Debatte um den nationalsozialistischen Begriff „Dienstgemeinschaft“, den die Kirchen in Deutschland sich nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus in Europa und Deutschland als vermeintlich theologischen Begriff zur Charakterisierung ihres kirchlichen Sonderarbeitsrechts, das faktisch auf den Prinzipien des nationalsozialistischen Arbeitsrechts aufbaut, angeeignet haben, hat Beese in der evangelischen Zeitschrift „Zeitzeichen“ für die EKvW Position bezogen. Der Beitrag von Dieer Beese wurde parallel mit einem Artikel zum gleichen Thema von Jürgen Klute, einem der Autoren des sozialethischen Autorenkollektivs, das die vorliegende Debatte angestoßen hat, veröffentlicht.
Im Folgenden sind zunächst die beiden Beiträge von Dieter Beese und Jürgen Klute dokumentiert. Die Dokumentation der beiden Beiträge erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift Zeitzeichen. Erstmals veröffentlicht wurden die beiden Beiträge in Zeitzeichen 8/2020 in der Rubrik „pro und contra: Aus für den Begriff Dienstgemeinschaft?“.
Anschließend folgen einige Anmerkungen von Wolfgang Belitz, Hans-Udo Schneider und Walter Wendt-Kleinberg zu der kirchenpolitischen Positionsbeschreibung von Dieter Beese.
Nationalsozialistisches Konzept
Der Begriff Dienstgemeinschaft lässt sich nicht entnazifizieren
Jürgen Klute
Die Dienstgemeinschaft ist ein antigewerkschaftliches Konzept, das auf dem Führerprinzip und auf Rassismus basiert.
Im Mai dieses Jahres habe ich mit drei Kollegen aus der evangelischen Industrie- und Sozialarbeit eine Eingabe an die Leitung der Evangelischen Kirche von Westfalen verfasst, in der selbige aufgefordert wird, den Begriff „Dienstgemeinschaft“ aus dem kirchlichen Sprachgebrauch zu streichen.
Einen arbeitsrechtlichen Sonderstatus für Kirchen gibt es nur in der Bundesrepublik, während in der Weimarer Republik für die Kirchen das damalige allgemeine Arbeitsrecht galt. Und auch während der Nazi-Diktatur hatten die Kirchen keinen arbeitsrechtlichen Sonderstatus. Erst bei der Gründung der Bundesrepublik haben die Kirchen einen arbeitsrechtlichen
Sonderstatus eingefordert. Wie die Erfahrungen anderer Länder zeigen, beschädigt ein säkulares Arbeitsrecht nicht die Inhalte, für die Kirchen stehen. Die lutherischen Kirchen sollten sich zudem daran erinnern, dass ein kirchliches Sonderarbeitsrecht nicht im Sinne reformatorischer Theologie ist. Aus Luthers Sicht ist jede Arbeit gleichermaßen Dienst an der Schöpfung Gottes, also gleichwertig.
Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass es sich bei der „Dienstgemeinschaft“ um ein genuin nationalsozialistisches Konzept handelt. Es ist ein antigewerkschaftliches Konzept, das auf dem Führerprinzip und auf Rassismus basiert, wie Hermann Lührs in seinem Aufsatz „Kirchliche Dienstgemeinschaft. Genese und Gehalt eines umstrittenen Begriffs“ bereits 2007 nachgewiesen hat. Mit dem Begriff „Dienstgemeinschaft“ haben die Kirchen nicht nur einen nationalsozialistischen
Begriff übernommen, sondern auch dessen antigewerkschaftlichen Kern: Die „Dienstgemeinschaft“ zielt darauf, wie bei Werner Kalisch (Grund- und Einzelfragen des kirchlichen Dienstrechts, 1952) nachzulesen ist, Gewerkschaften aus der kirchlichen Arbeitswelt auszuschließen. Alle Entnazifizierungsversuche des Begriffs seitens der Kirchen haben das nicht geändert. Das belegt, dass der Begriff sich nicht entnazifizieren lässt.
Es geht hierbei keineswegs nur um eine moralische oder historische Frage. Die Corona-Krise hat die Probleme im Pflege-, Sozial- und Gesundheitssektor offengelegt. Die Kirchen haben hier eine hohe gesellschaftliche Verantwortung. Denn mit rund 1,3 Millionen Beschäftigten dominieren kirchliche Einrichtungen diesen Sektor. Die kritikwürdigen Arbeitsbedingungen lassen sich ohne Gewerkschaften nicht verbessern – das zeigen die nordeuropäischenLänder. Erst wenn die Kirchen ihren arbeitsrechtlichen Sonderweg verlassen, sind die Voraussetzungen für wirksame gewerkschaftliche Organisationsstrukturen und für sozialpartnerschaftliche Verhandlungen auf Augenhöhe über die Arbeitsbedingungen in diesem Sektor geschaffen. In der EKD-Denkschrift von 2015 „Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt“ ist die Rede von einer
„hohen Dignität“ des Streikrechts und zudem konstatiert die Denkschrift: „Ein allgemein verbindlich geltender Flächentarifvertrag Soziale Dienste ist eine … wichtige Option.“ Wenn die Kirchen nicht auf der rhetorischen und symbolpolitischen Ebene gefangen bleiben wollen, dann müssen sie handeln und sich von dem antigewerkschaftlichen, nationalsozialistischen Erbe
namens „Dienstgemeinschaft“ emanzipieren. Das wäre zudem eine angemessene Geste angesichts der Schuld, die die Kirchen während der Nazidiktatur auf sich geladen haben. Kirchen haben sich heute anders als 1933 klar gegen rechts und für Menschenrechte positioniert. Das Festhalten am Nazi-Erbe der „Dienstgemeinschaft“ schwächt ihre Glaubwürdigkeit in diesem Punkt jedoch.
Veritable Option
Der Begriff Dienstgemeinschaft ist kein genuin nationalsozialistischer Begriff
Dieter Beese
Dienstgemeinschaft setzt nicht auf überkommene Kampfrituale zu Lasten unbeteiligter Dritter, sondern auf theologisch grundierte Kommunikation.
Die Begriffe diakonia und koinonia sind, wie beispielsweise die Kernbegriffe Evangelium oder Sohn Gottes, aus der kultischen, politischen oder sozialen Tradition Israels oder der griechisch-römischen Umwelt in den Sinnzusammenhang des christlichen Glaubens eingefügt worden. So hat sich der christliche Glaube seiner Zeit eingewurzelt. Auch Seelsorge, von Plato entlehnt, oder Theologie, auf Aristoteles zurückgehend, haben später so Eingang ins Christentum gefunden. Die Begriffe haben sich dabei verändert und zugleich den Glauben und die Kirchen geprägt. Keiner von ihnen war im Blick auf Herkunft und Wirkung harmlos oder unschuldig, am wenigsten der messianische Begriff Christus.
Mit der Dienstgemeinschaft verhält es sich ebenso. Das Wort bezeichnet im 19. Jahrhundert die Beziehung zwischen Lehnsherren und Vasallen (Retermeier 1803), einen erblichen politischen Stand (Eggo 1811), Schiffsbesatzung und Kapitän (Stoch 1827) oder einen militärischen Verband (von Stramberg 1860), im 20. Jahrhundert bis 1931 die gesamte Geschichte (Schaeder 1931) und, gleichbedeutend mit Solidarität, den Schweizer Kommunalkredit (Seemann 1931) oder Dienststellen der Eisenbahn (Becker 1931). Auch genuin theologischer
Sprachgebrauch ist nachweisbar. Evangelisch wird der Kleine Katechismus Luthers erläutert: „Die innige Dienstgemeinschaft […], worin der Abendmahlsgenießer mit dem Geber, der sich selbst gibt, treten soll, wird in der heiligen Schrift mehrfach angedeutet (Harnisch 1840). In, mit und unter der irdischen Dienstgemeinschaft der Diakonie wirkt sich die himmlische Heilsgenossenschaft aus (ZWTh 1896). Auch der Wunsch, die Volksgemeinschaft solle sich zu einer Dienstgemeinschaft wandeln, in die der Autor sich freudig mit Leib und Leben einführt (Windisch 1931), ist belegbar. Die NS-Weltanschauung war ein Sammelsurium unterschiedlicher Versatzstücke im Dienst menschenfeindlicher, insbesondere judenfeindlicher Ressentiments. Das NS-Regime hat Begriffe wie Jugend, Volk, Bewegung, Arbeit, Dienstgemeinschaft (im Arbeitsrecht) entsprechend benutzt und inflationiert. Kirche und Innere Mission waren darin tief verstrickt. Wie gezeigt, hat der Nationalsozialismus den Begriff Dienstgemeinschaft jedoch weder geschaffen, noch ist Dienstgemeinschaft ein genuin nationalsozialistischer Begriff.
Anders als 1933 – 45 sollte künftig die Logik von Barmen für Konfliktbearbeitung und Zusammenarbeit in der Kirche gelten, nicht die Logik der politischen Macht oder des Antagonismus von Kapital und Arbeit. Juristen, Theologen und Politiker haben die Nachkriegszeit genutzt, um in einer freiheitlichen Gesellschaft den kirchlichdiakonischen Auftrag selbstbestimmt zu
gestalten. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, des Bundesverfassungs- und des Bundesarbeitsgerichts hat festgestellte Mängel des Dritten Weges korrigiert, zum Beispiel Verbindlichkeit, Gewerkschaftsbeteiligung und Einstellungskriterien, erkennt jedoch Dienstgemeinschaft als kirchliches Leitbild ausdrücklich an (ausführlich BAG 2012).
Die Kirche der DDR hat sich als Zeugnis- und Dienstgemeinschaft verstanden (vergleiche auch Bonhoeffer, Kirche für Andere). Die internationale lutherisch-katholische Kommission beschrieb die kirchliche Einheit als Glaubens-, Sakramentsund Dienstgemeinschaft (1985). Die EKD bezog sich in ihrer Publikation über die Gestaltung des Christseins programmatisch auf den Begriff Dienstgemeinschaft (1986). Die Leuenberger Kirchen haben eine wachsende Gemeinschaft als Zeugnis- und Dienstgemeinschaft konstatiert (1994). Die Evangelische Kirche von Westfalen hat die Dienstgemeinschaft als interprofessionellen Kooperationsprozess akzentuiert (2018).
Dienstgemeinschaft erweist sich nach wie vor als produktiver Begriff. Er setzt nicht auf überkommene Kampfrituale zu Lasten unbeteiligter Dritter, auch nicht auf die ungebrochene Durchsetzung ideologischer, politischer oder finanzieller Interessen, sondern auf theologisch grundierte Kommunikation und paritätische Beratung mit verbindlichen Ergebnissen. In einer komplexen Kommunikationsgesellschaft ist dies eine veritable Option.
Wolfgang Belitz
Anmerkungen zu Dieter Beese: Veritable Option
Der Begriff Dienstgemeinschaft ist kein genuin nationalsozialistischer Begriff
Der Begriff „Dienstgemeinschaft“ ist auf den ersten Blick ein sehr angenehmes Wort, ethisch wertvoll, aufgeladen mit positiven Konnotationen, gut geeignet, die Besonderheit der Arbeit von Diakonie und Kirche herauszustellen gegenüber den Mitarbeitenden, der Öffentlichkeit und vor allem vor den Gerichten, um die Sonderstellung und darum Schutzwürdigkeit der Regelungen des kirchlichen Arbeitsrechts zu reklamieren und zu wahren.
Nun hat am 15. Mai 2020 das „Sozialethische Autorenkollektiv KDA 123 (Belitz/Klute/Dr. Schneider/Wendt-Kleinberg) eine Eingabe an die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche von Westfalen gerichtet mit dem Titel „Verhängnisvolle Dienstgemeinschaft“. Darin wird ausgeführt, dass der Begriff Dienstgemeinschaft ein genuin nationalsozialistischer Begriff ist, der in der nationalsozialistischen Diktatur geprägt worden ist und mit spezifischen Inhalten die Arbeitswelt seit 1934 beherrscht hat, natürlich auch die der Kirchen und ihrer Wohlfahrtseinrichtungen. Diese Herrschaft war 1945 zu ende und der Begriff und seine Elemente mussten demokratischen Bemühungen weichen.
Es waren ausgerechnet die Kirchen, die alleine diesen Begriff und seine Elemente in ihren Bereichen nach 1945 75 Jahre lang weiterführten bis auf den heutigen Tag. Für uns ist dieser Zusammenhang ein großer Skandal. Darum haben wir in unserer Eingabe geschrieben:
„Wir bitten Sie eindringlich, ja wir fordern Sie nachdrücklich auf, durch entsprechende Beschlussfassungen zu bewirken, dass der Begriff „Dienstgemeinschaft“ in Kirche und Diakonie aufgegeben wird und aus allen einschlägigen Gesetzen, Verlautbarungen und offiziellen Äußerungen in Kirche und Diakonie entfernt wird und zukünftig nie mehr verwendet werden soll.“
Die Kirchenleitung lässt uns nach vier Wochen ein ausführliches Antwortschreiben zukommen, in dem die zentralen Sätze der Entscheidung lauten: „Die Kirchenleitung wird Ihrer Eingabe nicht folgen…auf den Begriff Dienstgemeinschaft wird in Zukunft nicht verzichtet.“
„Die Kirchenleitung widerspricht ihrer Auffassung, dass der Begriff der Dienstgemeinschaft genuin durch den NS konstruiert worden ist, erfindet sich auch vor 1933 in der Literatur, auch der theologischen.“ Auf Belege und Fundorte wird nicht verwiesen, Quellenangaben werden nicht gemacht.
Hier springt nun Dieter Beese ein, der seiner Kirche mit den fehlenden Quellenangaben zur Seite stehen möchte. Es ist sehr schade, dass Dieter Beese den Text unserer Eingabe nicht gelesen hat, der für jeden und jede zugänglich ist unter www.verhaengnisvolle-dienstgemeinschaft.
Es bleibt ein sehr holpriger Versuch:
1. Verweise auf die Zeit nach 1945 und die kirchliche Nachkriegskarriere des Begriffs sind keine Widerlegung der Tatsache, dass es sich bei der Dienstgemeinschaft um eine genuin nationalsozialistische Begriffsbildung handelt. Selbst die Bemühung der Rechtsprechung hilft da nicht weiter. Auch wenn sie die Dienstgemeinschaft als kirchliches Leitbild ausdrücklich anerkennt, bleibt es bei ihrem genuin nationalsozialistischen Ursprung. Aus dem Bundesarbeitsgericht ist zu hören: „Das religiöse Bekenntnis zur Dienstgemeinschaft ist von staatlichen Gerichten nicht zu überprüfen.“
Wir aber haben es überprüft. Der theologische Ursprung des Begriffs ist geklärt. Er hat keinen, er ist aus dem Nationalsozialismus übernommen. Darum spricht alles dafür, dass er aus dem kirchlichen Sprachgebrauch entfernt wird.
2. Gegen diese Position entwickelt Dieter Beese durch gründliche Recherchen eine eigentümliche Geschichte des Begriffs Dienstgemeinschaft. Er dreht beim Gang durch die Geschichte nahezu jeden Stein um und findet dann und wann dies und jenes ohne jedoch genaue Beleg-/und Quellenangaben zu machen. Er benennt Autoren und Sachverhalte, indem er die Buchstabenfolge sucht. So entsteht eine dürftige Anhäufung der Buchstabenfolge ohne innere und äußere Verbindungen, so dass sich keine Traditionslinien ergeben, die zum Nationalsozialismus oder zur Kirche führen könnten.
3. Das Sammelsurium unbekannter Fundstellen und fehlender Traditionslinien legen den Schluss nahe, dass der Begriff Dienstgemeinschaft in Kirche und Theologie vor der Nazizeit nicht die geringste Rolle gespielt hat. Dies belegt die andere Recherche, die Hermann Lührs schon vor vielen Jahren durchgeführt hat mit dem Ergebnis:
„Zum Zeitpunkt 1930 ist die Dienstgemeinschaft kein Bestandteil des kirchlichen Lebens oder Glaubenslehre beider Konfessionen – und zwar weder in der Weite theologisch-enzyklopädischer Zusammenfassungen noch im engeren Funktionsbereich von Diakonie und Caritas. Die Dienstgemeinschaft kommt als Kategorie des kirchlichen Selbstverständnisses schlechterdings nicht vor.“
Ein entsprechender Fehler unterläuft Dieter Beese in diesem Zusammenhang beim Blick auf den Nationalsozialismus:
„Die NS-Weltanschauung war ein Sammelsurium unterschiedlicher Versatzstücke im Dienst menschenfeindlicher, insbesondere judenfeindlicher Ressentiments. Das NS-Regime hat Begriffe wie Jugend, Volk, Bewegung, Arbeit, Dienstgemeinschaft (im Arbeitsrecht) entsprechend benutzt und inflationiert.
Der Begriff Dienstgemeinschaft gehört nicht in diese Reihe, weil er nicht der Sprache entnommen und benutzt werden konnte, sondern er wurde für das nationalsozialistische Arbeitsrecht neu gebildet und konstruiert. Die Nazis haben ihn nicht aus der disparaten Fundortsammlung der letzten Jahrhunderte von Dieter Beese entnommen, sondern ihn mit neuen eigenen Inhalten auf ganz einfache Weise selbst geprägt durch die Verbindung zweier bekannter Begriffe:
Ich werde hier noch einmal genau ausführen, wie es historisch zur genuin nationalsozialistischen Begriffsbildung „Dienstgemeinschaft“ gekommen ist.
Das Wort Dienst stammt aus der bekannten Bezeichnung Öffentlicher Dienst.
Das Wort Gemeinschaft wird aus dem damals zuerst bekannten Begriff Betriebsgemeinschaft entnommen. So ist der genuin nationalsozialistische Begriff Dienstgemeinschaft entstanden.
Es sind drei Schritte nachzuvollziehen:
1. Schritt: Am 20. Januar 1934 hat die Reichsregierung das „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ beschlossen und verkündet und gestaltet damit die Arbeitswelt gemäß nationalsozialistischer Weltanschauung nach dem Führer/Gefolgschaftsprinzip:
„§1: Im Betrieb arbeiten der Unternehmer als Führer des Betriebes, die Angestellten und Arbeiter als Gefolgschaft gemeinsam zur Förderung der Betriebszwecke und zum gemeinsamen Nutzen von Volk und Staat.
§2: 1. Der Führer des Betriebes entscheidet der Gefolgschaft gegenüber in allen betrieblichen Angelegenheiten …
2. Er hat für das Wohl der Gefolgschaft zu sorgen. Diese hat ihm die in der Betriebsgemeinschaft begründete Treue zu halten.“
In diesem Gesetz findet sich der Begriff Dienstgemeinschaft nicht, sondern nur der Begriff Betriebsgemeinschaft und damit liegt der Gemeinschaftsbegriff schon vor.
2.Schritt: Als Konkretion dieses Gesetzes speziell für den öffentlichen Dienst hat die Reichsregierung am 23. März 1934 „Das Gesetz zur Ordnung der Arbeit in öffentlichen Betrieben und Verwaltungen“ beschlossen und verkündet. Dementsprechend ist der Paragraf 2 analog formuliert:
„1. Der Führer einer öffentlichen Verwaltung … entscheidet gegenüber den beschäftigten Arbeitern und Angestellten als der Gefolgschaft in allen Angelegenheiten, die durch dieses Gesetz geregelt werden …
2. Der Führer sorgt für das Wohl der Beschäftigten. Diese haben ihm die in der Dienstgemeinschaft begründete Treue zu halten und eingedenk ihrer Stellung im öffentlichen Dienst in ihrer Diensterfüllung allen Volksgenossen Vorbild zu sein.“
Hier wird der 2. Schritt getan: Das Wort Dienst, erkennbar entnommen der Wendung „öffentlicher Dienst“, wird verbunden mit dem Begriff Gemeinschaft, erkennbar entnommen dem Begriff Betriebsgemeinschaft.
3. Schritt: Im Jahre 1938 wurden die Tarifverträge der Weimarer Zeit ersetzt durch die „Allgemeine Tarifordnung“ (ATO). Vom Treuhänder für den öffentlichen Dienst wurde auf dieser Grundlage die „Tarifordnung A für Gefolgschaftsmitglieder im öffentlichen Dienst“ (TOA) festgesetzt und überwacht.
In beiden Ordnungen gibt es einleitend eine textgleiche Präambel:
„Im öffentlichen Dienst wirken zu allgemeinen Nutzen von Volk und Staat alle Schaffenden zusammen. Die ihnen gestellte Aufgabe erfordert eine Dienstgemeinschaft im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung, vorbildliche Erfüllung der Dienstpflicht und ein ihrer öffentlichen Stellung angemessenes Verhalten in und außer dem Dienst.“ (Präambel)
Im dritten Schritt also wird die neue Begriffsbildung unauflöslich gesetzlich verankert in der nationalsozialistischen Weltanschauung.
Durch ausdrückliche Beschlüsse kirchenleitender Organe wurden das Gesetz und die Verordnung für Kirche und Diakonie übernommen. So gelangte der Nazibegriff in die Kirche und ist dort bis heute bei sorgsamer Pflege geblieben. Dabei ging es nicht nur um die dauerhafte Übernahme eines Begriffs, es wurden auch alle Elemente des NS-Arbeitsrechts übernommen und bis heute beibehalten. Die nationalsozialistische Wortprägung Dienstgemeinschaft ist also zugleich und ineins Begriff und System
Die folgende Synopse zeigt in aller Wahrheit und Klarheit die Fakten der Übernahme des genuin nationalsozialistischen Begriffs Dienstgemeinschaft und seiner Systemelemente durch Innere Mission (Diakonie) und Kirche im Jahre 1949.
Nationalsozialistische Dienst-gemeinschaft1934
Kirchliche Dienstgemeinschaft (nach Kalisch) 1952
Außerkraftsetzung des Arbeitsrechtes des demokratischen Rechtsstaates
Außerkraftsetzung des Arbeitsrechtes des demokratischen Rechtsstaates
Abwesenheit von Gewerkschaften
Abwesenheit von Gewerkschaften
Keine Betriebsräte
Keine Betriebsräte
Keine Tarifautonomie
Keine Tarifautonomie
Keine Tarifverträge
Keine Tarifverträge
Kein Streikrecht
Kein Streikrecht
Führer- Gefolgschaftsprinzip
Religiös überhöhtes Treue-/ Gefolgschaftsprinzip
Eine andere Arbeitswelt ist schon vor der Nazidiktatur von 1933 in der Weimarer Republik Realität gewesen auf der Grundlage der Weimarer Verfassung vom 11. August 1919:
Das Arbeitsrecht im demokratischen Rechtsstaat von Weimar:
Kirche und Diakonie knüpfen nach 1945 nicht an Weimar an, sondern schreiben die Realitäten der Nazizeit fort.
Dieter Beese nennt diesen Vorgang eine Veritable Option. Das ist unfassbar. Für uns ist das eine Schande, die endlich überwunden werden muss. Darum haben wir die Eingabe an unsere Kirchenleitung gerichtet.
Hans Udo Schneider
Eine Erwiderung zum Beitrag von Dieter Beese: „Der Begriff der Dienstgemeinschaft ist kein genuin nationalsozialistischer Begriff“
Die Einleitung des Artikels markiert bereits die Grundeinstellung des Autors:
Dienstgemeinschaft setzt nicht auf „überkommene Kampfrituale“, belastet nicht „unbeteiligte Dritte“, sondern setzt vielmehr auf „theologisch grundierte Kommunikation“.
Im Klartext heißt das: Koalitionsfreiheit, Mitbestimmung, Streikrecht, Tarifverträge sind sämtlich „überkommene Rituale“. Sie schaden „unbeteiligten Dritten“. Dienstgemeinschaft eröffnet den Weg für eine „theologisch grundierte Kommunikation“.
Das ist die Sicht protestantischer Selbstgerechtigkeit. Eine Sicht von oben auf die Gesellschaft. Offensichtlich wird, dass Teile der Evangelischen Kirche immer noch nicht im demokratischen Rechtstaat angekommen sind. Die unten Stehenden sind Objekte der Führung, der Fürsorge und wenn nötig auch der Disziplinierung. Sie sind aber nicht Subjekte eigener demokratischer Rechte.
Vor diesem Hintergrund verstehe ich die Ausführungen von Beese.
Zunächst legt er dar, dass es gar keinen Grund zur Aufregung gebe, schon immer seien „Kernbegriffe“ aus unterschiedlichen Kulturen in den „Sinnzusammen-hang des christlichen Glaubens“ übernommen worden.
„Die Begriffe haben sich dabei verändert und zugleich den Glauben und die Kirchen geprägt.“ Und genauso verhalte es sich mit dem Begriff der Dienstgemeinschaft. Das ist entweder naiv oder ein böswilliger Akt der Geschichtsklitterung, also eine Täuschung.
Im Text kann Beese zwar formulieren: „Kirche und Diakonie waren darin („NS- Weltanschauung“ Einschub H.U.Sch) tief verstrickt“. Die Verstrickungen werden aber nicht benannt, die Ursachen bleiben im Dunkeln. Dadurch werden sie bagatellisiert, verkleinert, unkenntlich gemacht.
Der Historiker Hans-Ulrich Wehler stellt die Frage: „Auf welche Ursachen ist das fatale Stillschweigen, der Verzicht auf jedwede Form der Kritik, geschweige denn Opposition, aber auch die Affinität mancher Zielvorstellungen zurückzuführen? Man trifft auf der Suche nach einer Antwort auf ein verhängnisvolles Syndrom aus sechs Elementen, das auf die Mehrheit der 40 Millionen Protestanten und ihre geistlichen Hirten einen nachhaltigen Eindruck gemacht hat. Die sechs Elemente können hier nur schlagwortartig genannt werden:
1. „Die Nationalisierung des Religiösen“
2. „Die kompromisslose Ablehnung von Liberalismus und Demokratie“
3. „Die DNVP (Deutschnationale Volkspartei) als politische Heimat von 80 Prozent der Geistlichen“
4. „Die maßlose Glorifizierung des Obrigkeitsstaates“
5. „Der christlich motivierte Antisemitismus mit seiner unversöhnlichen Ablehnung des ‚Volks der Gottesmörder‘“
6. „Die völkischen Ideen griffen unter jüngeren Protestanten, ob Pfarrer oder Laien, rapide um sich … Die Volksgemeinschaftsidee der Hitler – Bewegung, ihr Appell an Idealismus und Opferbereitschaft, ihr Kampf gegen die ‚Internationalen Mächte‘ des Juden- und Freimaurertums fügten sich nahtlos an.“[1]
Vor diesem Hintergrund erscheint eine Abkehr von diesen Einstellungen bereits wenige Jahre nach Ende des Krieges wenig plausibel. Eher wahrscheinlich ist der Fortbestand der antidemokratischen, antigewerkschaftlichen Grundhaltung in weiten Teilen der Amtskirche, nunmehr versteckt im Kleid biblischer Lehrsätze.
Historisch belegt ist die Tatsache, dass die Kirchen, ebenso wie Innere Mission und Caritas in 1930erJahren den genuin nationalsozialistisch geprägten Begriff der Dienstgemeinschaft willfährig (also nicht gezwungenermaßen) übernommen haben. Von „Übernahme in den Sinnzusammenhang des christlichen Glaubens“ kann deshalb überhaupt nicht die Rede sein. Das gilt für die Zeit des NS aber auch für die Zeit nach 1945. Die zentralen Bestimmungsstücke des nationalsozialistisch geprägten Begriffs Dienstgemeinschaft bleiben – wie von uns dargelegt – erhalten.[2]
Was macht die genuin nationalsozialistische Prägung des Begriffs Dienstgemeinschaft aus?
1. Volks- Betriebs und Dienstgemeinschaft bilden im NS eine Einheit.
2. Diese Einheit ist wesentlich bestimmt durch Vorstellungen aus: Sozialdarwinismus, Rassentheorien, Degenerationstheorien und negativer Eugenik.
3. Sämtlich hier angesprochenen Theorien nehmen ihren Ausgangspunkt im 17. Und 18. Jahrhundert und beeinflussen das Denken und Handeln sowohl in der Politik (Sozialgesetzgebung), wie vor allem in der Medizin, Psychiatrie, der Pädagogik, dem Sozialwesen, der Behinderten- und Armenfürsorge. Es entwickelt sich ein Menschenbild, das vorgibt, die Ungleichheit der Menschen aus den Gesetzen der Natur zu begründen. Das heißt, die durch Klassenteilung der Menschen entstandenen Unterschiede werden zunehmend geleugnet und biologisiert. Diesem Menschenbild sieht sich nach 1933 auch die ganz überwiegende Mehrheit der evangelischen und katholischen Christen verpflichtet.
4. Nach 40 Friedensjahren entwickelt sich in der Weimarer Republik ein „Hexenkessel“ (H.U.Wehler), befeuert durch die Katastrophe des 1. Weltkrieges, den Zerfall der Adelsherrschaft und ständischen Traditionen, die Hyperinflation und die Weltwirtschaftskrise mit 8 Millionen Arbeitslosen. In diesem „Hexenkessel“ schwindet zunehmend das Vertrauen in die demokratische Bürgergesellschaft während gleichzeitig die Versprechungen einer konfliktfreien harmonischen Volksgemeinschaft an Zustimmung gewinnen.[3]
5. Mit der Machtübernahme setzen die Nationalsozialisten ihr Verständnis von Volksgemeinschaft im Sinne eines Ausschlussbegriffes und des unbedingten Führer-Gefolgschaftsprinzips durch. Nur wer zur Volksgemeinschaft gehört, kann auch zur Betriebs- und Dienstgemeinschaft gehören. Betriebs- und Dienstgemeinschaft sind somit nicht nur ideologisch gefasste Begriffe. Sie finden zudem Eingang in das Arbeitsrecht des NS, wie auch in die Arbeitsrechtsregelung der Kirchen und ihrer Verbände. In diesem Verständnis sind beide Begriffe genuin nationalsozialistisch. Dass das Wort Dienstgemeinschaft auch in anderen Zusammenhängen schon einmal gebraucht worden sein kann, wird von uns nicht bestritten. Die angestrengten Versuche, Nachweise aufzuführen, wer, wo und in welchem Zusammenhang schon einmal das Wort Dienstgemeinschaft benutzt hat, kann nur als ein eher lächerliches Ablenkungsmanöver angesehen werden. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass dieser Begriff vor seiner nationalsozialistischen Prägung irgendwo eine Wirkkraft entfaltet hätte.
6. Mit der Machtübernahme setzt unmittelbar der Terror, die Verfolgung von Juden, Andersdenkenden, Sozialdemokraten, Kommunisten, Gewerkschaftern, der Terror gegenüber Kranken, Behinderten und den sogenannten „Asozialen“ ein (auch als „Gemeinschaftsfremde“, „unnütze Esser“, „Ballastexistenzen“ bezeichnet). All dies ist hinreichend dokumentiert und belegt; ebenso die unterstützende Rolle führender Vertreter aus den Kirchen und ihren Verbänden.
7. Ein biographisches Beispiel: C.W.G. Villinger leitet zu Beginn der 20er Jahre die Kinderabteilung an der Psychiatrischen Klinik in Tübingen, ist ab 1927 im Jugendamt in Hamburg tätig, ab 1933 leitender Arzt in Bethel. Hier organisiert er aktiv die Durchsetzung der Zwangssterilisation. Ab 1939 ist Villinger Ordinarius in Breslau, gleichzeitig beratender Psychiater für den Wehrbereich VIII sowie im „Euthanasie“- Programm der Nationalsozialisten als Gutachter beteiligt. 1945 flüchtet er nach Tübingen und 1946 wird er Ordinarius für Psychiatrie in Marburg. Er beeinflusst im Wiedergutmachungsausschuss des Deutschen Bundestages wesentlich die Frage der nicht gewährleisteten Entschädigung für Zwangssterilisierte.
Das Wort Dienstgemeinschaft weckt bei vielen zunächst einmal positive Assoziationen. Die Befragten denken an Arbeits-, Sport-, Schul-Ehe-, Lebensgemeinschaft, an damit verbundene Nähe, Bindung, Vertrauen.
Die Neuschöpfung Dienstgemeinschaft besteht aus den eigenständigen Worten Dienst und Gemeinschaft. In dieser Form haben sie in sozialen, kulturellen, religiösen Zusammenhängen eine lange Traditionsgeschichte. Erst die Zusammensetzung macht aus den beiden Worten den genuin national-sozialistischen Begriff, dessen Kern die Ideologie der Volksgemeinschaft ist. Damit werden die positiven Begriffsinhalte in ihr Gegenteil verkehrt, somit pervertiert.
Ganz anders verhält es sich, wenn kirchlich – diakonische Beschäftigte nach dem Leitbild, den arbeitsrechtlichen Implikationen des Begriffs der Dienstgemeinschaft befragt werden. Eine 2016 erschienene empirische Untersuchung (als Dissertation von Malte Dürr bei Prof. T. Jähnichen, Theologische Fakultät der Uni Bochum vorgelegt) trägt den treffenden Titel: „Dienstgemeinschaft sagt mir nichts“. Aber es sind ja nicht nur die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Diakonie, wie wir aus eigenen Befragungen wissen, selbst die Verantwortlichen in den Gemeinden und Kirchenkreisen – Presbyter und PfarrerInnen – können mit dem Begriff nichts anfangen.
Die Kirchen haben es über 50 Jahre versäumt, auf die nationalsozialistische Prägung des Begriffes aufmerksam zu machen. Sie haben zugelassen, dass die „Dienstgemeinschaft“ maßgeblich das kirchliche Arbeitsrecht, den Dritten Weg begründet. Das zerstört Vertrauen. Dienstgemeinschaft wird als das erlebt, was es Im Nationalsozialismus war und heute ist, als „Dienstherrschaft“.
Selbst „in einer komplexen Kommunikationsgesellschaft“ kann ein solches Vorgehen niemals eine „veritable Option“ sein. Schon gar nicht, wenn das Wort veritabel, auch nur annähernd im Sinne von „wahrer Bedeutung“, „echt“, „aufrichtig“ verstanden werden soll. Einer Amtskirche, der die Grundidee des Priestertums aller Gläubigen nicht fremd ist, sollte die demokratische Mitwirkung und die Achtung der individuellen Grundrechte ihrer Mitglieder und Beschäftigten nicht fremd, sondern ein Herzensanliegen sein.
[1] Wehler, Hans –Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914 – 1919, München 2003, S.799f
[2] Vgl.: Belitz/Klute/Schneider/Wendt-Kleinberg: Verhängnisvolle Dienstgemeinschaft, Eingabe an die Kirchenleitung der EKvW vom 15.Mai 2020
Nach den beiden Analysen von Hans-Udo Schneider und Wolfgang Belitz bleibt eigentlich nicht mehr viel zu schreiben, es sei denn, dass einige Gedanken wiederholt werden.
Dieter Beese beginnt mit einer umständlichen Herleitung von Begriffen im kirchlichen Kontext, die wohl belegen sollen, dass der Begriff Dienstgemeinschaft in die Arbeitswelt und schließlich auch in den kirchlichen Sprachgebrauch eingewandert sei. Nun hat seine fleißige Recherche zwar zutage gefördert, dass hier und da sporadisch dieses Wort benutzt wurde, aber in kirchen öffentlichen oder kirchen internen Auseinandersetzungen also keine Rolle gespielt hat. Zwar hat Dieter Beese mit erstaunlicher Akribie unbedeutende kleine intellektuelle Feldwege entdeckt, aber leider nicht verraten, wo denn diese Fundstücke eine Wirkkraft oder eine Bedeutung erfahren haben. Seine Fleißarbeit wird auch für die Kirchengeschichte nicht viel abwerfen. Mich reizt es, an dieser Stelle die Einschätzung unserer Stellungnahme durch Traugott Jähnichen zu zitieren: dürftige und wenig überzeugende Fundstücke. Für einen wissenschaftlichen und politischen Diskurs völlig unbrauchbar.
Vor 1933 hatte der Begriff keinerlei Bedeutung in theologischen Diskussionen für Kirche und Diakonie, von da an aber umso mehr. Ohne äußeren Druck machten sich Kirche und Diakonie das nationalsozialistische Verständnis von Dienstgemeinschaft zu eigen. Kirchliche Arbeitswelt wurde nun mit Freude als Teil der nationalsozialistischen Arbeitswelt definiert, als Teil des Dreiklangs Volksgemeinschaft, Betriebsgemeinschaft und Dienstgemeinschaft. Und dies mit allen Unterdrückungskomponenten sowie der rassistischen Ausgrenzung.
Wir haben in unserer Stellungnahme alles Wesentliche zum nationalsozialistischen Begriff Dienstgemeinschaft zusammengetragen. Nach 1945 knüpften die Kirchen auch nicht an die Weimarer Demokratie an, um sich wirklich von ihrer nationalsozialistischen Umklammerung zu lösen, sondern ließen reaktionäre Kirchenjuristen, die durch ihre Nähe zu den Deutschen Christen diskreditiert waren, die wesentlichen Inhalte des Verständnisses von Dienstgemeinschaft formulieren. In der Substanz war dies die Fortsetzung des 1933 entwickelten Verständnisses von Dienstgemeinschaft: antigewerkschaftlich, autoritär und undemokratisch.
Der von Dieter Beese gerühmten spezifischen Form der Konfliktbearbeitung und Zusammenarbeit scheint mir ein vormodernes, undemokratisches und romantisches Verständnis von Arbeit und Gesellschaft zugrunde zu liegen. Streik und Forderung in der Arbeitswelt werden als überkommene Kampfrituale zu Lasten unbeteiligter Dritter dargestellt. Arbeitskampf zur Verbesserung der Arbeits- und Entgeltbedingungen werden in einem solchen Verständnis als Kriegsbegriffe verstanden, tatsächlich aber sind sie Grundrechte der Lohnabhängigen und werden mit dem Ziel eingesetzt, verbesserte Ergebnisse zu erreichen, die dann einen neuen “Friedenszustand” in den Arbeitsbeziehungen darstellen.
Mit dem Verweis auf die DDR und die lutherisch-katholische Kommission wird unsere Analyse nicht ausgehebelt. Auch hier wurde von den Kirchen die Chance vertan, an Weimar anzuknüpfen.
Für mich ist schon erstaunlich, dass sowohl Jähnichen als auch Beese sich als Brakelmann-Schüler verstehen. Es ist vielleicht sinnvoll, herauszuarbeiten, wie denn nun die Vorstellungen von kirchlicher Arbeitswelt bei Brakelmann aussehen.
Nicht verstanden habe ich die Passage über “die Logik von Barmen”.
Bereits am 26. November 2018 wurde die #PflegeComeBack Studie in Berlin vorgestellt. Diese Studie benennt die wesentlichen Ursachen für den Pflegekräftemangel in der Bundesrepublik.
Ver.di hat zu dieser Studie damals Stellung bezogen und Arbeitgeber und Politik zu einer schnellen Abhilfe aufgefordert. Die Corona-Krise zeigt nun, wie nötig eine Verbesserung der Personalausstattung und eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Gesundheits- und Pflegebereich sind.
In ihrer Kommentierung der Studie fordert ver.di zudem, das von der das von der Bundesregierung für die Altenpflege formulierte Ziel flächendeckender Tarifverträge schnellst möglichst umzusetzen.
Ohne eine Emanzipation der Kirchen von ihrem nationalsozialistischen Erbe der Dienstgemeinschaft werden diese mehr als berechtigten Forderungen von ver.di nicht durchzusetzen sein. Das zeigt sich am Beispiel dieser nicht mehr ganz neuen #PflegeComeBack Studie, deren Analysen bis heute schlicht ignoriert werden – weil die Kirchen als wichtigste Player in diesem Sektor ohne Druckmöglichkeiten seitens der Gewerkschaften es einfach nicht nötig haben, sich zu bewegen und die Politik sich ebenfalls ohne gewerkschaftlichen Druck nicht zum Handeln genötigt sieht. Die Politik schätzt die niedrigen Kosten im Gesundheits- und Pflegesektor als Beitrag zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der bundesdeutschen Exportwirtschaft.
Der Deutschlandfunk hat in seiner Sendung „Tag für Tag“ unsere Eingabe an die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW) aufgenommen. In dem siebenminütigen Beitrag, der am 4. Juni 2020 ausgestrahlt wurde, kommen Hans-Udo Schneider, der Sozialwissenschaftler Hermann Lührs, der katholische Sozialethiker und Leiter des in Frankfurt/Main ansässigen Owald-von-Nell-Breuning-Instituts Bernhard Emunds sowie der Bochumer Kichenarbeitsrechtler Jacob Jussen, der auch Mitglied im Rat der Evangelischen Kirche ist, zu Wort. Die Kirchleitung der wollte sich laut dem „Tag-für-Tag“-Journalisten Michael Hollenbach nicht zu der Eingabe äußeren
Unter dem folgenden Link kann der Beitrag angehört werden.
Dr. Hartmut Kreß, Professor für Sozialethik an der Universität Bonn, hat am 24. Mai die Eingabe an die Kirchenleitung der EKvW „Verhängnisvolle Dienstgemeinschaft“ auf der Webseite des Instituts für Weltanschauungsrecht vorgestellt und kommentiert.
Sein Fazit lautet: „Auf jeden Fall wird an den aktuellen Auseinandersetzungen sichtbar: Es trifft ins Schwarze, dass die Eingabe der vier westfälischen Sozialpfarrer und Sozialwissenschaftler vom 15. Mai 2020 – wie oben wiedergegeben – das Wort „Dienstgemeinschaft“ als einen „Abwehr-“ und „Kampfbegriff“ bezeichnet, dessen Auswirkungen innerkirchlich sowie gesamtstaatlich „verhängnisvoll“ sind.“