Verhängnisvolle Dienstgemeinschaft – eine Zwischenbilanz

Von Hans Udo Schneider

Die wegweisende Arbeit des Sozialwissenschaftlers Hermann Lührs „Kirchliche Dienstgemeinschaft – Genese und Gehalt eines umstrittenen Begriffs“ (2007)

und die eigenständige Auseinandersetzung mit dem kirchlichen Arbeitsrecht haben uns 2020 zu einer Eingabe an die Kirchenleitung der EKvW veranlasst. Sie trägt den Titel „Verhängnisvolle Dienstgemeinschaft“.  Sie umfasst drei zentrale Aussagen und eine Forderung:

  1. Der Begriff „Dienstgemeinschaft“ entstammt der nationalsozialistischen Ideologie. Seine Verwendung im kirchlichen Raum verbietet sich von selbst.
  2. Das nationalsozialistische Arbeitsrecht – einschließlich des Führer-/Gefolgschaftsprinzips wurde 1936/1937 willfährig in die Tarifordnungen der Diakonie und Caritas übernommen.
  3. Nach dem Krieg wehren sich führende Repräsentanten der EKD (Dibelius. Brunotte, Ranke) in einer beispiellosen antigewerkschaftlichen Kampagne gegen die Aufnahme der Kirchen in das Betriebsverfassungsgesetz. Sie versprechen ein kirchliches Arbeitsrecht (Dritter Weg), das den Ansprüchen des Betriebsverfassungsgesetzes mindestens gleichkommen soll. Bis 1972 (Verabschiedung des Mitarbeitervertretungsgesetzes) geschieht nichts. In einem Vergleich des nationalsozialistischen Verständnisses der Dienstgemeinschaft und der kirchlichen Dienstgemeinschaft (nach Kalisch 1952) zeigen wir auf, dass nicht nur der Begriff „Dienstgemeinschaft“ übernommen wird, sondern seine wesentlichen Inhalte identisch sind. Der Versuch des Nazi-Juristen Werner Kalisch den Begriff seiner ursprünglichen Bedeutung zu entleeren und durch neue (nunmehr religiöse) Inhalte semantisch zu verkehren, damit sich niemand mehr an die ursprüngliche Bedeutung erinnert, ist gescheitert.

Wir verbinden diese Erkenntnisse mit der eindringlichen Forderung an unsere Kirche, auf den Begriff der Dienstgemeinschaft in allen Verlautbarungen/ Verordnungen/ Gesetzen zu verzichten.

In fast 80 Jahren hat es die Kirche nicht vermocht, ihr Arbeitsrecht so zu gestalten, dass den Beschäftigten volle paritätische Mitwirkungsrechte gewährt wird. Die Verweigerung individueller Grundrechte, insbesondere des Rechts auf Koalitionsfreiheit ist eine schwere Hypothek und in den europäischen Demokratien einmalig.

Die Rede von der „Dienstgemeinschaft als Wesensäußerung der Kirche“ konnte nicht eingelöst werden, die Dienstgemeinschaft bleibt „ein unbekanntes Wesen“.  

Wir ermutigen die Kirche nunmehr die in der EKD-Denkschrift von 2015 „Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt“ vorgestellten Perspektiven aufzugreifen. Das kirchliche Arbeitsrecht muss jetzt grundlegend neugestaltet werden. Die Würdigung der Rolle der Gewerkschaften und die Bedeutung des Streikrechts für den sozialen Rechtsstaat darf nicht länger nur nach außen plakativ vertreten, sondern muss innerkirchlich umgesetzt werden. Der Abschluss von Tarifverträgen ist längst überfällig.

Vor diesem Hintergrund hat es zwei Gespräche mit der Kirchenleitung der EKvW gegeben.

  1. Ein digitales Gespräch (ZOOM-Konferenz) am 16. Dez. 2020
  2. Ein Gespräch im Landeskirchenamt Bielefeld am 27. Okt. 2022

Beide Gespräche fanden zwar in guter kollegialer Atmosphäre statt. Inhaltlich gab es jedoch auf Seiten der Kirchenleitung kaum Bewegung. Ihre Verhaltensstarre hat uns verwundert.

Besonders vermisst haben wir ein Wort der von uns hoch geschätzten Präses, Frau Annette Kurschuss. Dabei ist uns klar, sie ist beides, einerseits eine vom christlichen Glauben beseelte Person und andererseits kirchenleitendende Theologin in herausgehobener Funktion. Die sich daraus ergebende Spannung zeigt sich im Hinblick auf das kirchliche Arbeitsrecht besonders deutlich. Die Evangelische Kirche kommt aber an einer Entscheidung nicht vorbei, sie wird sich von dem nationalsozialistischen Begriff der Dienstgemeinschaft trennen müssen und ihren Beschäftigten die im Grundgesetz verbrieften Rechte zubilligen.

Trotz der mehrfach – sowohl mündlich als auch schriftlich vorgetragenen Bitte um eine Stellungnahme – zu den unter 1-3 vorgetragenen zentralen Positionen – blieb die Kirche bei ihrer Verweigerungshaltung. Ein von den Professoren Beese und Jähnichen in Aussicht gestelltes Papier über die (angebliche) Verbreitung des Wortes Dienstgemeinschaft vor 1933 wurde nicht vorgelegt.

Dem Abschluss von Tarifverträgen steht die Kirchenleitung nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber, sie hält aber an dem Streikverbot – als für das kirchliche Arbeitsrecht nicht verhandelbar – fest.

Die Rolle des von uns als Nazi – Juristen bezeichneten Dr. Werner Kalisch will sie über eine wissenschaftliche Arbeit aufklären. Wir haben in unserem Abschlussbrief (März 2023) darauf hingewiesen, das in der Fachzeitschrift  „Arbeitsrecht und Kirche“ (2+3 2022) von unserem Mitglied Dr. Schneider bereits ein entsprechender Beitrag vorliegt.

In der Fachöffentlichkeit ist unsere Eingabe auf beachtliche Reaktion gestoßen.

Dazu zählen:

  •  Rundfunkbeiträge in den Dritten Programmen von NDR, WDR, DLF.  
  • Zeitzeichen 8/2020 –pro und contra – Aus für den Begriff Dienstgemeinschaft (Jürgen Klute, Pro) – (Dieter Beese, Contra)
  • Publik-Forum 14/2022: Verhängnisvolle Dienstgemeinschaft- Ausgerechnet der NS-Jurist Werner Kalisch war ein Wegbereiter des Kirchlichen Arbeitsrechts
  • Hartmut Kreß: Evangelische Theologie, Kirchliches Arbeitsrecht und der neue Klärungsbedarf zum Tendenzschutz, in: Vorgänge – Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik Nr.233, S.91-99
  • Busse,H.; Baumann-Czichon,B. (Hg): Arbeitsrecht und Kirche 2+3 (2022,S.50-57): Volksgemeinschaft-Treueeid- Dienstgemeinschaft – Der Jurist Dr. Werner Kalisch – Deutscher Christ und NS-Ideologe (Hans Udo Schneider)
  • Johannes Hempel: Die Dienstgemeinschaft und das Streikrecht in der Kirche aus einer evangelischen Perspektive, ZevKR 67(2022) S.306-334
  • Zahlreiche Mitarbeitervertretungen unterstützen unsere Eingabe, so u.a. der Gesamtausschuss der Mitarbeitervertretungen der Ev-Luth. Kirche in Norddeutschland.
  • Exemplarisch sei hier auch die Entschließung der Vollversammlung der Mitarbeitervertretungen in Niedersachsen für Tarifverträge genannt. Es heißt dort: „Bei gegensätzlichen Interessen brauchen beide Seiten Machtmittel, wenn es nicht zum Diktat einer, der mächtigeren Seite, kommen soll. Im alten System zeigt sich, dass die Arbeitgeberseite einen mehrfachen Machtvorteil hat. Sie kann die Regeln in der ARK nach Gutdünken ändern. Sie kann Entscheidungen der Schlichtung und des Kirchengerichtshofes ignorieren. Sie muss sich nicht an die eigenen Verhandlungsergebnisse halten. Das Urteil des Kirchengerichtshofs vom 11.01.2010, wonach die Information über die Entgeltverhandlungen in der ARK nach dem MVG nicht zu den Aufgaben der MAVen gehört, bestärkt uns in der Forderung nach Tarifverträgen.

Ausblick: Unsere Zwischenbilanz ermutigt uns in der Auffassung, den eingeschlagenen Weg beharrlich fortzusetzen.

  • Zurzeit führen wir Gespräche mit dem Vorstand der Diakonie (Deutschland).
  • Wir setzen unsere Informationsarbeit fort. Die bisher vorliegenden Materialien sind im Internet öffentlich zugänglich.
  • Neben der Beteiligung an der Fachdiskussion ist es unser Anliegen, weitere Qualitätsmedien für uns Anliegen zu interessieren, um so eine breite Öffentlichkeit herzustellen.