Volksgemeinschaft – Treueeid – Dienstgemeinschaft

Diese Fassung des Beitrags ersetzt die ursprünglich hier veröffentlichte kürzere Fassung.

Nationalkonservative Kirchenführer und ehemalige Nationalsozialisten bestimmen den Kurs in der kirchlichen Arbeitsrechtssetzung im Nachkriegsdeutschland: von Otto Dibelius bis zu Werner Kalisch

Von Hans-Udo Schneider

Einführung

In jüngster Zeit hat die Frage nach Kontinuitätslinien ehemaliger NS-Apologeten und Funktionäre erneut an Aktualität gewonnen. Exemplarisch steht dafür der französische Historiker Johann Chapoutat mit seinem Buch: Gehorsam macht frei. Eine kurze Geschichte des Managements – von Hitler bis heute.[1] Chapoutat befasst sich mit dem  Chefideologen des NS Staates, Reinhard Höhn. Höhn war SS-Sturmführer und Vertrauter Heinrich Himmlers. 1945 tauchte Höhn erst einmal unter, betrieb eine Praxis als Heilpraktiker, bis er 1953 – wie Tausende andere ehemaliger Nazis – wieder ans Licht der Öffentlichkeit trat. 1956 gründete er das Habsburger Institut, in dem fortan Führungskräfte aus Wirtschaft, Politik und Verwaltung geschult wurden. Spuren einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit sucht man bei nahezu allen Personen mit NS-Vergangenheit vergeblich. Das gilt auch für Höhn. Für Chapoutat sind die Verbindungslinien zum Nationalsozialismus evident.  Andere, wie der Bielefelder Soziologe Stefan Kühl[2], widersprechen und stellen vielmehr die große „Wandlungsfähigkeit“ ehemaliger Nationalsozialisten heraus. Ob sich allerdings „Wandlungsfähigkeit“ am „Harzburger Modell“ festmachen lässt, erscheint doch mehr als fragwürdig. Denn dessen Kern besteht gerade darin, die Führungsmethoden der Reichswehr („Führen durch Auftrag“, „Führen von Vorn“) auf Unternehmens- und Verwaltungsstrukturen zu übertragen.[3]

Buße, Metanoia, ein glaubwürdiges Schuldeingeständnis sucht man bei kirchenleitenden Gremien und ihren Repräsentanten in den Nachkriegsjahren ebenso vergeblich. Im Gegenteil sie unterbanden nahezu jede Diskussion über die aktive Rolle des völkisch-national geprägten Protestantismus im NS-Staat. Vor diesem Hintergrund zeugen wichtige kirchenpolitische Entscheidungen der Nachkriegszeit eher von Kontinuität und schneller Anpassungsfähigkeit als von Neuanfang. Diese Hypothek belastet die Kirche bis heute.

  1. „Verantwortung im eigenen Interesse“- wie die Kirche das Gesetzgebungsverfahren zum Betriebsverfassungsgesetz maßgeblich beeinflusst.

Eine besonders unrühmliche Rolle spielte der Berliner Landesbischof und spätere EKD-Ratsvorsitzende Otto Dibelius. Im Parlamentarismus der Weimarer Republik sah er „Mächte der Finsternis“ am Werk. Damit stand er nicht allein.  Der Historiker Hans-Ulrich Wehler resümiert: „Gegen die Fürstenenteignung leistete die Kirche auf allen Ebenen verbissenen Widerstand, während sie sich, wie ein einsamer Kritiker klagte, ‚in der Frage der permanenten Ausbeutung der Arbeiterschaft… niemals an Bibel und Katechismus hat erinnern lassen‘.“[4]

Und am Vortag des 5o. Todestages von Otto Dibelius (30.Jan.2017) schreibt  Karsten Krampitz in einem Beitrag des Humanistischen Pressedienstes[5]: “Von den großen Sozialmilieus dieser Zeit (Weimarer Zeit, Einschub H.U.Sch) zeigte sich keines so offen und aufnahmebereit für die Ideologie der Nazis wie das kleinbürgerlich-evangelische. Der deutsche Protestantismus mit seinen Kirchen, Institutionen und Vorfeldorganisationen war die Haupteinbruchstelle der Nationalsozialisten.  …Das Gros der evangelischen Amtsträger begrüßte den Niedergang der parlamentarischen Demokratie und die Entwicklung hin zu einer totalitären Diktatur.

Zeugnis davon gibt die Dibelius Predigt am ‚Tag von Potsdam‘. ‚Wir wollen wieder sein, wozu uns Gott geschaffen hat. Wir wollen wieder Deutsche sein!…Durch Gottes Gnade ein deutsches Volk!‘ ….Die evangelische Kirche machte sich zum Komplizen des faschistischen Terrors. Für die Siegesfeier der Nazis stellte sie den Raum zur Verfügung und sparte nicht mit dem Segen. Historiker schätzen die Zahl der bis zum 21. März (1933) durch SA und SS Ermordeten bei fünf-sechshundert Menschen. Mindestens Fünfzigtausend waren bereits in Konzentrationslagern eingesperrt.“

Dibelius hatte seiner Predigt den Bibelvers: “Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein“ (Röm. 8,31) vorangestellt. Als die Nationalsozialisten am 1. April 1933 zum Judenboykott aufrufen, verteidigt Dibelius in zahlreichen Beiträgen die NS- Judenpolitik.  „Die deutschen Regierungen seit 1918 hätten sich ‚auf das schwerste versündigt‘. Sie hätten Zehntausenden von ‚unerfreulichen Elementen‘ das deutsche Staatsbürgerrecht verliehen.“ Deshalb sei das Vorgehen der Regierung gerechtfertigt. Zugleich macht er Vorschläge wie dem Judenproblem zu begegnen sei. So fordert er die umgehende Schließung der deutschen Ostgrenzen für jüdische Einwanderer (dann werde sich das Judenproblem wegen deren geringer Kinderzahl quasi von alleine lösen) und er fordert die „Festigung der eigenen Art“ durch Verantwortung für das deutsche Volkstum“.[6]

Nach dem Krieg war Otto Dibelius der “Mann der Stunde“. Er kam zu einer für evangelische Verhältnisse ungewöhnlichen Machtfülle (Bischof von Berlin, Generalsuperintendent der Kurmark, Generalsuperintendent von Berlin, Präsident des evangelischen Oberkirchenrates der altpreußischen Kirchenleitung und 1949 wurde er auf der ersten ordentlichen Synode der EKD in Bielefeld-Bethel zum Ratsvorsitzenden gewählt).

Im oben angesprochenen Rundfunkbeitrag: „Evangelischer Bischof Dibelius“ beschreibt der Theologe und Journalist Jens Gundlach dessen Rolle im Nachkriegsdeutschland wie folgt: „Dibelius hatte die Größe der evangelischen Kirche in Deutschland im Auge. Er blendete die NS-Zeit einfach aus. Er kam damit opportunistisch sowohl dem deutschen Volk als auch den deutschen Eliten entgegen, die einer Selbstreinigung im Wege standen und sich selbst von jeglicher Mitschuld freisprachen.“ Deshalb verwundert es auch nicht, wenn wir ein Wort über die Mitverantwortung der Evangelischen Kirche an der Judenvernichtung im Stuttgarter Schuldbekenntnis (dessen Mitautor Dibelius war) vergeblich suchen. Und der Politologe und Historiker Prof. Manfred Gailus resümiert in seinem Vortrag bei der Martin-Niemöller-Stiftung: Das Monument Dibelius ist dringend revisionsbedürftig. Die Evangelische Kirche kann nicht glaubwürdig den Antisemitismus bekämpfen und über den Antisemitismus von Dibelius (der Jahrhundertfigur des deutschen Protestantismus) schweigen.[7] 

Auch der Theologe Heinz Brunotte[8], der 1936 erklärte, die nationalsozialistische Weltanschauung sei mit dem christlichen Glauben vereinbar, sofern diese sich nicht zur Religion erhebe, machte eine steile Kirchenkarriere. Im NS-Staat gehörte er als Konsistorialrat der Kirchenkanzlei der DEK an. In dieser Funktion erarbeitete er zusammen mit dem Reichskirchenminister (Hanns Kerrl) die „fünf Grundsätze“, die Christen auf Judenhass und die NS-Weltanschauung verpflichteten.

Schon 1946 war Brunotte wieder in Amt und Würden (er profitierte von dem den Kirchen einzig in der britischen Besatzungszone zugebilligten Recht, die Entnazifizierung ihrer Beschäftigtenn eigenmächtig durchzuführen). Er wurde Oberlandeskirchenrat in der Landes-kirche Hannover und ab 1949 Präsident der Kirchenkanzlei der EKD.  In unserem Zusammen-hang erhält ein Hinweis von Gundlach besondere Bedeutung. Bereits fünf Jahre nach der Verabschiedung des Betriebsverfassungsgesetzes und dem Beharren auf Eigenständigkeit in der Arbeitsrechtsregelung gibt die Kirche in einem wichtigen Teilbereich ihre Eigenständigkeit wieder auf. „1957 unterschreibt Brunotte zusammen mit Konrad Adenauer, Franz Josef Strauß und Otto Dibelius in Anwesenheit von Staatssekretär Hans Maria Globke den Militärseelsorgevertrag zwischen der Bundesrepublik und der EKD. Der Vertrag, der bestimmt, dass Militärpfarrer die Uniform der Bundeswehr tragen, deren Befehl unterstehen und vom Staat bezahlt werden, also Staatsbeamte sind, war unter Mitwirkung Brunottes in Geheimverhandlungen zustande gekommen, bei denen auch die EKD-Synode übergangen wurde.“ [9] 

An diesem Vorgang wird ein Muster erkennbar, dass bereits im Gesetzgebungsverfahren zur Betriebsverfassung eine entscheidende Rolle spielte. Wie René Smolarski[10] in seinem Beitrag  „Verantwortung im eigenen Interesse“ anhand der Auswertung einschlägiger Dokumente belegen kann, war die Kirche vom Beginn der Erarbeitung des Betriebsverfassungsgesetzes an (März 1950) bis zu seiner Verabschiedung am 14. Nov. 1952  beteiligt. Der Kirche gelang es, in außergewöhnlicher Weise auf das Gesetzgebungsverfahren Einfluss zu nehmen (bis zur Vorformulierung der für „sie relevanten Paragraphen des BetrVG[11]).

Mit der ständigen Kontaktnahme zum federführenden Arbeitsministerium wurde der in der Bonner Außenstelle der Kirchenkanzlei für soziale Fragen zuständige Oberkirchenrat Hansjürg Ranke[12] (Mitglied von SA und NSDAP) beauftragt. Bei entscheidenden Weichenstellungen nahmen sowohl der Präsident der Kirchenkanzlei, Heinz Brunotte, als auch der Ratsvorsitzende Otto Dibelius im direkten Kontakt zum Arbeitsminister wie auch zum Bundeskanzler Einfluss.  So begründete Dibelius in seinem Schreiben vom 12. Juni 1951 die Herausnahme der Kirchen aus dem Geltungsbereich des Betriebsverfassungsgesetzes nicht nur mit Verweis auf Art. 140 GG sondern auch mit den „Erfahrungen der nationalsozialistischen Zeit“ und der Bedrohungslage der östlichen Gliedkirchen in der DDR, die sich verschärfe – so die Argumentation – wenn die Autonomie der Kirche nicht gewahrt werde.[13]

Ein wichtiges Detail – auf das Smolarski hinweist – soll nicht unerwähnt bleiben. Auf dem Kirchentag 1950 kam der Rat einer Bitte der Kammer für soziale Ordnung nach, sich deren Beschluss zu Frage der Mitbestimmung zu eigen machen und zu veröffentlichen. Darin wird festgestellt, „dass eine Erweiterung des Betriebsrätegesetzes von 1920 durch die soziale Entwicklung Deutschlands erforderlich sei und dass es das Ziel eines solchen Mitbestimmungsrechtes sein müsse, ‚das bloße Lohnarbeitsverhältnis zu überwinden und den Arbeiter als Menschen und Mitarbeiter ernst zu nehmen‘:“[14]  Abschließend mahnt der Rat in seiner Stellungnahme die Sozialpartner, „von den Bemühungen nicht abzulassen, und die Opfer, die der soziale Friede erfordert, nicht zu scheuen.“ Gut so, könnte man meinen, doch für die Kirchen bleibt der Appell folgenlos. Sie gehen ihren eigenen Weg. In diesem Zusammenhang klingt die Zusicherung von Heinz Brunotte in seiner Stellungnahme an das Arbeitsministerium wie blanker Hohn: „die Kirche [werde] allen berechtigten sozialen Anforderungen gegenüber den bei ihr Beschäftigten im vollen Umfange nachkommen“.[15] Der damit verbundene Anspruch wurde bis heute nicht eingelöst. Vielmehr ging es darum, was der Jurist und Oberkirchenrat der Kirchenkanzlei der EKD Otto von Harling[16]  in einem Brief an die Leitungen der ev. Landeskirchen (1951) so auf den Punkt bringt. Sollten die Gewerkschaften den Druck auf die Kirchenbetriebe verstärken, sollte es möglich sein: „überall rechtzeitig die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um der Einschaltung kirchenfremder Einflüsse begegnen zu können“.[17] Somit wird klar, die führenden Vertreter von Kirchenkanzlei und Rat der EKD sind im demokratischen Rechtsstaat noch nicht angekommen.

Die antidemokratischen, antigewerkschaftlichen, autoritären Kontinuitätslinien bestehen im Denken und Handeln der führenden Akteure in der ev. Kirche weiter fort.

  • Der Jurist Dr. Werner Kalisch – ein Wegbereiter des kirchlichen Arbeitsrechts

Uns interessiert die Person des Juristen Dr. Werner Kalisch, sein beruflicher Werdegang und seine Veröffentlichungen. Kalisch studierte an der Universität Halle-Wittenberg Theologie und Jura. Ob er deshalb zumeist als Kirchenjurist bezeichnet wird oder ob er als Jurist im kirchlichen Dienst gestanden hat (nach bisherigen Recherchen eher unwahrscheinlich) ist nicht entscheidend. Viel bedeutsamer ist die Tatsache, dass die Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht (ZevKR) dessen Aufsatz (Grund-und Einzelfragen des kirchlichen Dienstrechts) aus 1952 veröffentlichte, ohne seine völkisch-nationale und antijüdische Einstellung zu hinterfragen. Damit setzt sie ein verheerendes Signal: Schaut her, bei uns können auch Nazi-Ideologen reputierlich veröffentlichen, wenn sie den Bezug auf die eigene und die aktive Rolle der Kirche im Nationalsozialismus vergessen machen. Deshalb sollen an dieser Stelle drei weitere Dokumente: die Doktorarbeit aus dem Jahre 1940, die Entnazifizierungs- und die Promotionsakte einbezogen werden.[18] [19]

In seinen Veröffentlichungen geht es um das kirchliche Dienstrecht, die Stellung der Geistlichen und im weiteren Sinne der kirchlichen Mitarbeiter zum Staat. Eine zentrale Rolle spielt dabei der nationalsozialistische Begriff der Dienstgemeinschaft. Seine Arbeit aus dem Jahre 1952 wird fortan in den kirchlichen Lexika zwar stets als Primärquelle für die Rechtfertigung der Dienstgemeinschaft angeführt, eine breite sozialethische Debatte löst diese in den ersten Nachkriegsjahrzehnten allerdings nicht aus.

Erst mit der Jahrhundertwende kommt eine spürbare Belebung auf. So qualifiziert noch  jüngst der frühere Arbeitsrichter und Vorsitzende der Schlichtungsstelle für mitarbeitervertretungs-rechtliche Streitigkeiten bei der Evangelischen Kirche von Westfalen, Johannes Hempel, den Aufsatz von Kalisch als „richtungsweisend für das kirchliche Arbeitsrecht“.[20]

Und auch der Theologe Wolfgang Maaser bezeichnet den Beitrag als „wegweisend“ und „originell“ (s.S.12 in dieser Arbeit). Während bei Hempel Person und Persönlichkeit des Werner Kalisch völlig im Dunklen bleiben, zeichnet Maaser die Entwicklungslinien des Begriffs der Dienstgemeinschaft von 1934-1952 auf, kann aber in den beiden entscheidenden Arbeiten von Kalisch keine Kontinuitäten feststellen. Die Frage der Kontinuitäten sind unser zentrales Thema. Aber auch die Glaubwürdigkeit der Kirche selbst steht erneut auf dem Spiel, wenn sie sich wie hier –  in der Frage des Arbeitsrechts – auf erklärte Gegner des demokratischen und sozialen Rechtstaates stützt.

Kalisch war im völkisch–nationalen, antijüdischen Denken tief verankert. Wie aus dem Lebenslauf, seiner Promotions- und Entnazifizierungsakte hervorgeht, wurde Kalisch 1912 in Lyck/ Ostpr. geboren.  Seine Eltern waren der Rendant Franz Kalisch und  Marie Kalisch, geb. Erbarth. Nach der Volksschule besuchte er die Staatliche Bildungsanstalt in Naumburg/Saale und legte dort 1932 die Reifeprüfung ab. Im gleichen Jahr begann er das Studium der Ev. Theologie an der Universität Halle-Wittenberg. Sein erstes theologisches Examen bestand er im Dez. 1938. Mehrere Auslandsreisen führten Kalisch nach Südslawien, Rumänien und Ungarn, wo er sich insbesondere mit den dortigen „kirchlichen und kirchenrechtlichen Verhältnissen“ auseinandersetzte. Seine Erfahrungen flossen in eine „preisgekrönte akademische Arbeit“, wie er herausstellt, von der ein Auszug im Februar 1939 im „Verlag des Evangelischen Bundes in Berlin unter dem Titel ‚Kirche und Volkstum bei den Siebenbürger Sachsen‘“ erschien.

Bereits 1935 hatte Kalisch, parallel zu seinem Theologiestudium, mit dem Jura Studium begonnen, das er am 2. März 1940 mit dem ersten juristischen Staatsexamen abschloss.  Ausweislich seiner Promotionsakte wurde der Gerichtsreferendar Werner Kalisch am 17. Juli 1940  an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät  der Martin – Luther – Universität Halle–Wittenberg promoviert.[21] Seine Arbeit trägt den Titel: Die öffentlich – rechtliche Stellung des preußischen evangelischen Pfarrers vom allgemeinen Landrecht bis zur Gegenwart“.[22]

 Zu diesem Zeitpunkt hatten die Universität und insbesondere die juristische Fakultät bereits weitgehend ihr Renommee eingebüßt.  „Das Niveau von Lehre und Forschung sank seit dem Verlust der jüdischen Lehrer ab 1933 rapide ab, ganz abgesehen von dem ideologischen (völkischen, rassistischen, totalitären) Druck, der vor allem auch auf die Rechtswissenschaft ausgeübt wurde und ihr Niveau entscheidend minderte, …Insgesamt waren bis 1937 aus der Gesamtuniversität 16 Ordinarien, zwei persönliche Ordinarien, zwei Honorarprofessoren, neun außerordentliche Professoren, zwei Privatdozenten und zwei Lektoren vertrieben worden.

Hierbei entstammte allein die Hälfte der entlassenen Ordinarien der Rechts-und Staatswissenschaftlichen Fakultät, die damit die weitaus größten Verluste aller Fakultäten der Universität aufwies.[23]

Kalisch war Mitglied der SA (1933-38), der NSDAP (ab 1940), des NSV (1935-1945), des NS-Rechtswahrerbundes (1940-45), des NS-Alt-Herrenbundes (1940-1945) und der Deutschen Studentenschaft (NSDStB). In seiner Entnazifizierungsakte gibt Kalisch zu Protokoll, dass die Mitgliedschaften in der SA und der Deutschen Studentenschaft nicht freiwillig erfolgten, sondern zwangsläufig mit seinem Studium an der Universität Halle/Saale verbunden waren. Weiter gibt er zu Protokoll, dass er nach seinem ersten juristischen Examen, die „Befähigung zum Richteramt erwerben“ wollte und deshalb gezwungenermaßen die Mitgliedschaft in der NSDAP beantragen musste. Ein Parteibuch habe er aber bis 1945 nicht erhalten, ebenso habe er keine Mitgliedsbeiträge gezahlt.

Diese Aussagen scheinen auf den ersten Blick glaubwürdig zu sein. Andererseits spiegeln sie das typische „Strickmuster“ der Abwehr und Rationalisierung, dass nahezu alle ehemaligen Nationalsozialisten in den Entnazifizierungs- und Gerichtsverfahren vortrugen. Auffällig ist zudem, dass Kalisch noch 1940 Mitglied im NS-Rechtswahrerbund und NS-Altherrenbund wurde. Ganz offensichtlich hatte Kalisch die Karriere im NS-Staat weiter fest im Blick.

Der weitere berufliche Werdegang des Juristen Kalisch stellt sich wie folgt dar: Von April 1940 bis Juni 1940 war Kalisch Assistent am OLG Naumburg/Saale. Er absolvierte danach eine einmonatige Rekrutenausbildung und war dann als Dolmetscher in verschiedenen Einheiten der Wehrmacht (Frankreich: April – August 1943) bis zur Kapitulation tätig.

Ab Juli 1945 konnte er seine Assistententätigkeit am OLG Naumburg und Halle /Saale fortsetzen, bis er durch eine Entscheidung des Justizministers vom 04.07.1947 wegen seiner NS- Vergangenheit aus dem Vorbereitungsdienst entlassen wurde. Da Kalisch gleichzeitig noch Assistent an der juristischen Fakultät der Universität Halle war, kündigte er eigenständig sein dortiges Dienstverhältnis. Kalisch zog nach Göttingen, wo er zunächst als Assistent an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität arbeitete und auch seine Ausbildung im Justizdienst fortsetzte. Im gleichen Jahr wechselte er zum OLG Celle, zuletzt in der Position als Oberlandesgerichtsrat. Ab 1953 war er Oberregierungsrat im Kultus-ministerium des Landes Niedersachsen in Hannover.[24]

Später avancierte Kalisch zum Ministerialrat, wie aus einem von R. Smend an Kalisch adressierten Brief vom 08. Febr. 1967 hervorgeht.[25]

Der weitere berufliche Werdegang konnte nicht aufgeklärt werden.[26] Bis 1996 lebte Kalisch südlich von Hannover in der Gemeinde Wennigsen. 84jährig zog er im selben Jahr an den Starnberger See in die Gemeinde Seeshaupt, wo er im Juli 1999 verstarb.

Die „Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht“ (herausgegeben vom Kirchenrechtlichen Institut der EKD, Göttingen) veröffentlichte 1952 seinen Aufsatz mit dem Titel: „Grund-und Einzelfragen des kirchlichen Dienstrechts“.[27] Dieser Beitrag erhält in der Folgezeit den Rang eines Grundlagendokumentes für den Sonderweg („Dritter Weg“) der Kirchen in der Arbeitsrechtsetzung.

  • Der Grundtenor der Dissertation von Werner Kalisch: Kirche und ihre Pfarrer sind im öffentlichen Leben Teil der Volksgemeinschaft

Den roten Faden der Arbeit macht Kalisch bereits in seiner Einleitung deutlich. Es geht um die Stellung der „Kirche und ihrer Pfarrer im öffentlichen Leben der Volksgemeinschaft, die jetzt wieder (im Nationalsozialismus) „vielfach erörtert“ und nicht mehr wie im „Zwischenreich“ (gemeint ist die Weimarer Republik) als etwas Gleichgültiges hingenommen“ werde. In seiner historischen Betrachtung greift Kalisch weit zurück und grenzt von der Gegenwart (Nationalsozialismus) die vergangenen Epochen: „Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten von 1794“, „vom allgemeinen Landrecht bis 1848/50“,die Wandlung 1848/50 und die Entwicklung bis 1918“ sowie „die Lage im Zwischenreich (1918-1933)“ ab. In meiner Darstellung folge ich der aufgewiesenen Gliederung.

3.1 Vom Allgemeinen Landrecht bis zur Weimarer Republik

Die ersten beiden Epochen weisen in der öffentlich-rechtlichen Stellung des Pfarrers keine bedeutsamen Unterschiede auf. Der Pfarrer ist nur „mittelbarer Staatsbeamter“, da ihm die Führung des Personenstandsregisters obliegt und er die Aufsicht über die Volksschulen zu führen hat. Aufgrund dieser mittelbaren Stellung als Staatsbeamter hat er dem König von Preußen Treue und Gehorsam zu schwören. Ab 1848 treten deutliche Veränderungen ein. Mit der grundsätzlichen Trennung der Angelegenheiten der Kirche von denen des Staates ändert sich auch die Stellung des Pfarrers. „Als Pfarrer hat er aufgehört, Beamter zu sein.“ Er braucht auch deshalb keinen Eid mehr auf die Verfassung zu leisten.  Da der König von Preußen aber „summus episcopus“ der Evangelischen Kirche ist, hat der Pfarrer ihm Treue und Gehorsam zu schwören.

3.2 Zur Situation der Kirche im „Zwischenreich“

Die Weimarer Republik bezeichnet Kalisch als „Zwischenreich“. Er resümiert: “Wenn sich somit auch äußerlich an der rechtlichen Stellung des evangelischen Pfarrers gegenüber dem früheren Zustand, abgesehen von dem Fortfall der Ausübung der Schulaufsicht, nicht viel geändert hat, so kann das nicht darüber hinwegtäuschen, daß mit der Staatsumwälzung von 1918 tatsächlich ein tiefer innerer Wandel in der Stellung des Pfarrers zum Staat und des Staates zu ihm vor sich gegangen ist.[28] 

Kalisch macht den Wandel vor allem an zwei für ihn zentralen Aspekten fest: 1. Der „Gleichgültigkeit“ des Staates gegenüber der Kirche und 2.  Dem Verzicht des Staates auf den „Treueid“ des Pfarrers, sowohl in Bezug auf die Verfassung als auch gegenüber dem Staatsoberhaupt.

„Indem der Staat von Weimar in seiner Verfassung jede weltanschauliche Entscheidung ablehnt und damit die weltanschauliche Grundsatzlosigkeit zum Grundsatz erhebt, will er auch den Kirchen bewußt gleichgültig gegenüberstehen. Es handelt sich also nicht nur um eine ‚Trennung‘ von Staat und Kirche, sondern, wie Poppitz es treffend genannt hat, um ein ‚System der Gleichgültigkeit‘ der Kirche gegenüber. Ihre Verfassung spiegelt, ‚vorwiegend‘, wenn auch in gemilderter Form, die linksliberalen und sozialistischen Ansichten wieder, die die Revolution vorbereitet hatten.“[29]

Das „System der Gleichgültigkeit“ des Staates gegenüber der Kirche wird für ihn zum Schlüssel in der Beurteilung der „Lage im Zwischenreich“. Im pädagogisch-psychologischen Verständnis steht Gleichgültigkeit für die höchste Form von Missachtung und Respektlosigkeit. Genau das spiegelt Kalischs Überzeugung.

So ist der Artikel 137, Absatz 1 (WRV): „Es besteht keine Staatskirche“ und Absatz 3: „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Grenzen des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde“ für ihn nicht etwa Ausdruck der gebotenen Neutralität des Staates gegenüber den Religionsgemeinschaften (Neutralität muss ja nicht gleichbedeutend mit Missachtung sein), sondern kennzeichnend für das neue „System der Gleichgültigkeit“. Dazu zählt auch der Verzicht des Staates auf den Treueeid der Geistlichen.

Der Staat legt keinen Wert mehr darauf, daß der evangelische Pfarrer zu ihm in eine engere Bindung als jeder andere Staatsbürger ohne Amt tritt. Was früher als die Verbundenheit von ‚Thron und Altar‘ bezeichnet wurde, soll jetzt restlos und unter Verkennung des darin liegenden berechtigten Momentes beseitigt sein. Der Staat übersieht in bewußter Gleichgültigkeit, daß der evangelische Pfarrer im Regelfall Inhaber eines zwar nicht staatlichen, aber doch eines Amtes ist, das Einfluß auf viele von denselben Menschen nimmt, mit denen es auch der Staat als mit seinen Staatsbürgern zu tun hat. So ist es auch kein Wunder, daß ebenso gleichgültig, wie er ihnen, mit wenigen Ausnahmen auch die Gesamtheit der evangelischen Pfarrer dem Staate von Weimar gleichgültig, wenn nicht ablehnend gegenübersteht.“[30]

3.3 Die Umgestaltung der Evangelischen Kirche im Nationalsozialismus

 Im abschließenden Kapitel der Promotionsarbeit: „Die öffentlich-rechtliche Stellung des evangelischen Pfarrers in der Gegenwart“ bleiben die Elemente Gleichgültigkeit und Treueeid die Schlüsselmerkmale.

„Der nationalsozialistische Staat hat völlige Gleichgültigkeit der Religion gegenüber für sich stets abgelehnt. Er hat von Anfang an der Religion gegenüber eine bejahende Stellung eingenommen und daher die Tätigkeit des bolschewistischen Freidenkertums sofort unterbunden.“[31]

Kalisch verweist in diesem Zusammenhang auf „Punkt 24 Absatz 2 des gemäß Beschlusses der Generalmitgliederversammlung vom 22.V.1926 unabänderlichen Programms der NSDAP, als der ‚mit dem Staat unlöslich verbundenen Trägerin des deutschen Staatsgedankens‘, worin diese ‚den Standpunkt des positiven Christentums vertritt, ohne sich konfessionell an ein bestimmtes Bekenntnis zu binden.‘“[32]

In einer Fußnote zitiert er den Punkt 24 des o.g. Programms der NSDAP.

Dort heißt es u.a.: Sie bekämpft den jüdisch-materialistischen Geist in und außer uns und ist überzeugt, daß eine dauernde Genesung unseres Volkes nur erfolgen kann von innen heraus auf der Grundlage: Gemeinnutz vor Eigennutz.“[33]

Die bejahende Stellung des NS- Staates gegenüber der Kirche wird für Kalisch auch dadurch untermauert, dass die „Verfassung des Zwischenreiches“, wenn auch nicht durch einen formalen Rechtsakt“ –  so doch durch die geschichtliche Entwicklung der letzten Jahre de facto aufgehoben ist.[34] Er verweist auf die VO des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28.II.1933 (Art.114,115,117,118,123,124,153) ebenso auf Art.137 WRV, der ebenfalls gegenstandslos geworden ist. Auf diese Weise ist das Verhältnis von Kirche und Staat nicht mehr verfassungsrechtlich gebunden, sondern „der lebendigen Entwicklung“ unterworfen. Die Gestaltungsmacht dieser Entwicklung kommt in erster Linie dem Führer und der NSDAP zu.

„So hat der nationalsozialistische Staat in einer Zeit höchster, den Bestand der evangelischen Kirche ernstlich gefährdender kirchenpolitischer Wirren durch das Gesetz zur Sicherung der Deutschen Evangelischen Kirche vom 24.September 1935(RGBL.IS.1178) bekundet, wonach der Reichsminister für die kirchlichen Angelegenheiten ermächtigt wird, ‚zur Wiederherstellung geordneter Zustände in der Deutschen Evangelischen Kirche und in den Landeskirchen‘ Verordnungen mit rechtsverbindlicher Kraft zu erlassen. Das ist in bisher 18 Durchführungsverordnungen geschehen, die die Auflösung der evangelischen Kirche in einzelne Sekten verhindert haben. Schließlich hat der Führer selbst durch seinen Erlaß über die Einberufung einer verfassungsgebenden Generalsynode der Deutschen Evangelischen Kirche vom 15. Februar 1937 erneut zu erkennen gegeben, daß ihm das Schicksal der evangelischen Kirche nicht gleichgültig ist.“[35]

Für Kalisch sind NS-Staat und der Führer die Retter der Evangelischen Kirchen und trotz ihrer bedrohlichen Lage bleibe ihr Status als Körperschaften des öffentlichen Rechts unangetastet. In dieser Logik ist es für ihn ganz selbstverständlich, ja notwendig, dass sich „hieraus bestimmte rechtliche Folgen für die Stellung des evangelischen Pfarrers“ ergeben.

Dazu zählen die Regelung der Anstellungsvoraussetzungen („deutsche Reichsangehörigkeit“, „ein zum Studium an einer deutschen Universität berechtigendes Reifezeugnis“, „das Studium an einer deutschen Hochschule“), dazu zählen aber auch Paragraphen aus dem Strafgesetzbuch. So soll der sogenannte „Kanzelparagraph“, der am 15.Mai 1871 in das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich Eingang gefunden hat, durch eine Bestimmung über „Volksverhetzung“ ins Strafgesetzbuch aufgenommen werden. Kalisch zitiert den Wortlaut wie folgt: „Wer den Volksfrieden dadurch gefährdet, daß er öffentlich einen Teil der Bevölkerung gegen einen anderen aufhetzt oder öffentliche Angelegenheiten in hetzerischer Weise erörtert, wird mit Gefängnis bis zu 2 Jahren oder mit Haft bestraft. Ist der Täter ein Amtsträger oder ein Religionsdiener, so ist die Strafe Gefängnis.“[36]

Diese Regelung im Strafgesetzbuch sei „sachlicher Ausdruck“ der besonderen Stellung des Geistlichen im öffentlichen Leben, „die ihm eine erhöhte Treuepflicht Volk und Staat gegenüber auferlegt.“ 

Weitere Regelungen betreffen die Kuppeleiparagraphen (§ 181 Absatz Ziffer 2), die Bestrafung der „Unzucht mit Pflegebefohlenen (§174 Ziffer1)“ sowie „Amtspflichtverletzungen“ (u.a. „Falschbeurkundungen, Verletzung des Steuergeheimnisses“). 

Auf die Darlegung der Besonderheiten aus dem nationalsozialistischen Zivilprozessrecht, dem Steuer- und Versicherungsrecht, dem Gemeindeverfassungs- und Schulrecht soll bis auf eine Neuerung im Beamtenrecht verzichtet werden.  Das Beamtengesetz wurde am 26. Januar 1937 erlassen und stellt für Kalisch eines der „Grundgesetze des nationalsozialistischen Staates“[37] dar. Erstmalig findet dort der Begriff der Deutsche Beamte“ Eingang in den Gesetzestext. In §174 Satz 2 werden die Kirchen ermächtigt, zur Regelung des Rechts ihrer Beamten und Seelsorger dem DBG entsprechende Vorschriften zu erlassen. Kalisch kommentiert diesen Sachverhalt mit den Worten: “Insoweit setzt der kirchliche Gesetzgeber dann nicht nur kirchliches Recht, sondern Kraft staatlicher Delegation weltliches Recht.“[38]

Alle anderen Rechtsbereiche unterstreichen die ständige wiederkehrende Formulierung, dass den Geistlichen „eine der den Beamten entsprechende öffentlich-rechtliche Stellung zukommt.“ Sie mache den Treueeid des evangelischen Pfarrers zwingend notwendig.

Kalisch verweist zunächst auf die am Tag des Führergeburtstages (Einschub H.U.Sch) erlassene Verordnung des Präsidenten des Evangelischen Oberkirchenrates vom 20. April 1938 zum Treueeid der Geistlichen und Kirchenbeamten. Dieser folge damit der Ermächtigung nach §174 Satz 2, DBG.

Diese VO bestimmt in §1: Wer in ein geistliches Amt der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union….berufen wird, hat seine Treuepflicht gegenüber Führer, Volk und Reich durch folgenden Eid zu bekräftigen: ‚Ich schwöre: Ich werde dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, treu und gehorsam sein, die Gesetze beachten und meine Amtspflichten gewissenhaft erfüllen, so wahr mir Gott helfe.‘ (§4Absatz 1DBG).“

Besonders wichtig ist Kalisch die folgende Bestimmung: „Nach § 2 dieser VO haben die bereits früher in ein Amt berufenen Pfarrer den Treueeid nachträglich zu leisten. Wer sich weigert den vorgeschriebenen Treueid zu leisten, ist gemäß §4 in Übereinstimmung mit § 57 DBG zu entlassen.“[39]

Damit werde ein würdeloser, dem Wesen der Volksgemeinschaft widersprechender Zustand beendet und das „persönliche Treueverhältnis des evangelischen Pfarrers zu dem Staatsoberhaupt wiederhergestellt“. Der Eid sei„die bindendste Form des Verpflichtetseins.“[40] Mit seinem Credo erhebt er den Treueid zu einer quasi sakramentalen Handlung: „Letztlich steht der evangelische Pfarrer immer im Dienst seines Herrn Christus. Aber der Auftrag Christi weist ihn hin zu dem Dienst an seinem Volk, als einer in Gottes Schöpferwillen begründeten Ordnung, in das er hineingeboren ist. Dem an der Spitze dieses Volkes stehenden Führer, dem Staatsoberhaupt des Reiches, als der äußeren Lebensform der Volksgemeinschaft, verpflichtet sich der evangelische Pfarrer zur Treue und zum Gehorsam, zur Beachtung der Gesetze und zur gewissenhaften Erfüllung seiner Amtspflichten.“[41]

  • Ein Zwischenresumee

Werner Kalisch wurde 1940 an der Universität Halle- Wittenberg zum Dr. jur. promoviert. Sein Doktorvater, Gottfried Langer, war Mitglied der NSDAP und zahlreicher nationalsozialistischer Organisationen. 1945 wurde Langer Mitglied der SED und des FDGB. Schon seit 1937 war die Universität „judenfrei“.  Den größten Verlust musste die Rechts-und Staatswissenschaftliche Fakultät verkraften.

Sie hatte seit 1933 immer stärker an Profil verloren. „Sie war Provinz im diktatorisch gleichgeschalteten Zentralstaat…..entwurzelt, zerbrochen, wie die ganze bürgerliche Gesellschaft. Das hatte mit dem Rechtsphilosophen Rudolf Stammler, dem Staatsrechtler Max Fleischmann, dem Rechtshistoriker Guido Kisch, den Zivilrechtlern Rudolf Joerges und Gutav Boehmer, dem Strafrechtler Friedrich Kitzinger und auch Arthur Wegner, noch ganz anders ausgesehen.“[42]

Kalisch legt mit seiner Promotionsarbeit eine Untersuchung vor, in der er im historischen Rückblick die jeweils unterschiedliche öffentlich-rechtliche Stellung des evangelischen Pfarrers, beginnend mit dem Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten von 1794 bis zur Gegenwart des Nationalsozialismus, aufzeigt. Im Verlaufe der Geschichte wird die mittelbare Stellung des Pfarrers als Staatsbeamter immer schwächer, bis es 1918 mit der Weimarer Republik zu einer klaren Trennung von Kirche und Staat kommt. Die öffentlich-rechtliche Stellung der Kirche bleibt erhalten. Mit der Trennung fällt auch der Treueeid weg. Für Kalisch ist das Ausdruck eines Systems der Gleichgültigkeit.[43]

Im Gegensatz dazu habe der Nationalsozialismus von Anfang an eine bejahende Einstellung zur Kirche. Und mit der Machtübernahme setze er dem bolschewistischen Freidenkertum ein sofortiges Ende. Für Kalisch ist es somit in Ordnung, dass die Weimarer Reichsverfassung (inclusive Art.137 III WRV) ohne förmlichen Beschluss außer Kraft gesetzt wird, dass an ihre Stelle Verordnungen des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat treten, dass Recht  fortan durch die NSDAP und den Führer gesetzt wird und dass das Verhältnis von Staat und Kirche somit nicht mehr verfassungsrechtlich gebunden, sondern der “lebendigen Entwicklung“ unterworfen ist.

Der NS- Staat verstehe sich als Retter der Deutschen Evangelischen Kirche, er bestimme die Voraussetzungen für die Berufung ins Pfarramt, er öffne mit den Strafrechtsparagraphen zu Volksverhetzung und Kuppelei Tür und Tor für Bespitzelung und Verdächtigungen und mit der Einführung des Begriffs Deutscher Beamter in das Beamtenrecht setze er zugleich fest, wer Kirchenbeamter sein dürfe. Die Deutsche Evangelische Kirche wird als integraler Bestandteil der Volksgemeinschaft gesehen. Von daher sei der Treueeid auf den Führer unverzichtbar.  Kalisch bezeichnet ihn als die „bindendste Form des Verpflichtetseins“.[44] Der Treueid wird somit  zu einem Akt der religiösen Weihe. Wer sich verweigert, kann nicht mehr Pfarrer und Beamter der Kirche sein. Er wird mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft.

Die vorgelegte Arbeit des Juristen Werner Kalisch zeigt exemplarisch wie die Deutsche Evangelische Kirche und ihre Pfarrer ihre Einbindung in die nationalsozialistische Rechtsordnung betrieben haben. „Gemeinnutz vor Eigennutz“ so lautet das Leitmotiv. Gemeinnutz ist, was der Volksgemeinschaft nutzt. Und letztendlich bestimmt der Führer („aus der Vorsehung“) was zum Nutzen der Volksgemeinschaft ist. Von daher sind der Führerbefehl und die NS- Ideologie unmittelbar geltendes Recht. Daraus entwickelte sich ein „System partikularer Mächte (Arbeitgeber, Militär, Bürokratie, Polizei)“, die so ihre Rechtsetzung mit Verweis auf den „Führer“ rechtfertigen konnten. „Zur inhaltlichen Ausfüllung dieser Logik wurden die Einflußsphären als Gemeinschaften organisiert, die jeweils wieder ihre Logik dem Satz von Gemeinnutz unterstellten.“[45] Zu den Gemeinschaften mit herausragender Bedeutung zählten im Faschismus: die Volks-, Betriebs-(Dienst-), die eheliche Lebens- und die Hausgemeinschaft.

Kalischs Arbeit offenbart sein Selbstverständnis, seine Überzeugungen. Mit seinem zur Promotion vorgelegten Lebenslauf gibt er die Richtung an.  Er tritt als Rechtswahrer der nationalsozialistischen Ideologie, als Sprachrohr von Partei und Führer auf. Zweifel, Kritik sind seinem Denken fremd. Er versteht sich als „Wertejurist“ des NS- Staates und Deutscher Christ.

Es ist deshalb kaum vorstellbar, dass Kalischs Dissertation rein opportunistischen Motiven geschuldet ist. Wer diesen Hintergrund kleinredet oder gar ausblendet, zeigt, dass die Rolle, die der mehrheitlich national-konservativ, völkisch und antijüdisch ausgerichtete Protestantismus bei der Entstehung und Stabilisierung des NS-Staates gespielt hat auch im 21. Jahrhundert noch nicht aufgearbeitet ist.

  • Werner Kalischs Arbeit aus 1952: „Grund und Einzelfragen des kirchlichen Dienstrechts“ –  Bruch, Wandlungsfähigkeit oder Kontinuität?

Dieser Beitrag (für den Theologen Wolfgang Maaser, Prof. an der FH. RWL „eine originelle und wegweisende kirchenrechtliche Arbeit“[46]) stammt ursprünglich aus einer „Festgabe“ für den 1975  in Göttingen verstorbenen bedeutenden Staats- und Verfassungsrechtler Rudolf Smend von Schülern und jungen Freunden zu dessen 70. Geburtstag.[47]

Ob Kalisch junger Freund oder gar Schüler (höchst unwahrscheinlich) von Smend war, kann nicht exakt beantwortet werden.  In der Doktorarbeit taucht der Name Smend weder Im Literaturverzeichnis noch in den zahlreichen Fußnoten auf. Das ist zumindest ein Indiz dafür, dass die staatsrechtlichen Überlegungen Smends im Denken des Doktoranden Kalisch keine besondere Rolle gespielt haben.

Smend[48] war erster Leiter des am 14.12.1945 gegründeten kirchenrechtlichen Instituts der Evangelischen Kirche mit Sitz in Göttingen. Die Gründung geht ganz wesentlich auf die Initiative Smends zurück. Die Zeitschrift für Evangelisches Kirchenrecht wurde ebenfalls von Rudolf Smend (1951) gegründet. Darin wurde 1952 der knapp 40 Seiten umfassenden Beitrag von Werner Kalisch veröffentlicht.

  • „Vom Saulus zum Paulus“ – die neue Welt des Dr. Werner Kalisch  

Der Artikel 137 Abs.3 der Weimarer Reichsverfassung (WRV), der in dieser Fassung 1949 Bestandteil des Grundgesetzes wurde, ist nunmehr Ausgangs- und Eckpunkt in Kalischs Argumentation: „Kirchliche Autonomie ist von ebenso grundsätzlicher wie von aktueller Bedeutung“.[49] Ohne Umschweife stellt er fest, dass die kirchliche Autonomie sich auf alle kircheneigenen Angelegenheiten beziehe. Und was kircheneigene Angelegenheiten sind, bestimme letztendlich die Kirche selbst. An dieser Stelle könne es zwar, wie Kalisch anmerkt, zu Auseinandersetzungen und Konflikten kommen. Sie seien dann notfalls über eine Verfassungsbeschwerde zu klären. Eine besondere Bedeutung misst er dem sogenannten Schrankenvorbehalt bei, also der Bestimmung, dass die Autonomie der „Kirche als Teil der Rechtsgemeinschaft“ nur „innerhalb des für alle geltenden Gesetzes gilt. Er legt dar, dass „das für alle geltende Gesetz“ keinesfalls „identisch (sei) mit den allgemeinen Gesetzen (Art.118),… den ‚allgemeinen Staatsgesetzen‘(Art.135), die nach der WRV die Freiheitsrechte des Individuums oder den ‚Gesetzen‘ (Art.127), die die Selbstverwaltung der Gemeinden und Gemeindeverbände ein-schränkten.“[50]

In diesem Zusammenhang verweist er nunmehr auf Johannes Heckel[51], der bereits 1932, den „wahren Sinn der Formel von dem für alle geltenden Gesetz erläutert habe: „Das ist nicht das generelle Gesetz im Sinne der Gewaltenteilungslehre, auch nicht ein Gesetz, das sich auf eine Allgemeinheit von Individuen oder Verbänden von ihnen bezieht, es ist endlich auch nicht jedes Gesetz, das von der volonté générale getragen wird; sondern es ist das Gesetz, das auf die Allgemeinheit im prägnanten Sinn zugeschnitten ist, nämlich auf die deutsche Nation.“[52]

War die Trennung von Staat und Kirche im Blick von Kalisch (1940) noch Ausdruck eines „Systems der Gleichgültigkeit“ und das Werk „bolschewistischen Freidenkertums so ist sie mit der Verabschiedung des Grundgesetzes (1949) wieder das, was auch schon in der Weimarer Verfassung Intention war: Der Staat verhält sich gegenüber den Religionsgemeinschaften neutral.

Kalisch vollzieht also eine bemerkenswerte Kehrtwende. Jetzt sammelt er akribisch Argu-mente, die die Eigenständigkeit der Kirche belegen sollen. Er führt an, dass bereits nach 1918 eine Überzeugung an Boden gewann, die die „Normierung der Dienst- und Arbeitsverträge im Bereich der Kirchen als deren eigene Angelegenheit“ betrachtet. Trotz dieser Entwicklung lehnte sich die Kirche – wie er bedauernd erwähnt –  an das öffentliche Dienstrecht an und schloss Tarifverträge ab. Und sie vollzog die Anlehnung an den Staat erneut mit der Übernahme der Allgemeinen Tarifordnungen der Nationalsozialisten 1937/38.

Mit bemerkenswerter Akrobatik kann Kalisch beides in einen Topf werfen: Den Abschluss von kirchlichen Tarifverträgen in Weimar und die willfährige Übernahme der Tarifordnungen der Nationalsozialisten samt der Ideologie der Dienstgemeinschaft.[53] Mit keinem Wort erwähnt er, dass er in seiner Arbeit von 1940 die Trennung von Kirche und Staat in Weimar noch als Teufelswerk gebrandmarkt und die Vereinnahmung der Evangelischen Kirche durch die Nationalsozialisten als Heilswerk gefeiert hat.

Die Entwicklung der Trennung von Staat und Kirche sieht Kalisch weiter befördert durch die dialektische Theologie der 20iger Jahre und  den Kirchenkampf in der Zeit des National-sozialismus.[54] Damit weckt er Assoziationen, die in seiner Arbeit von 1940 ebenfalls nicht erwähnt werden, allenfalls als Menetekel am Horizont erscheinen, jetzt aber als Begründung für ein notwendig eigenständiges Dienstrecht herhalten müssen. Die Erwähnung der „dialektische Theologie“ stößt besonders befremdlich auf, zumal deren Vertreter, Karl Barth, von den Nationalsozialisten und Deutschen Christen bekämpft und 1935 seinen Bonner Lehrstuhl aufgeben musste.

Der andere, Friedrich Gogarten, war zwar 1933 für wenige Monate den Deutschen Christen beigetreten, verließ die Organisation im selben Jahr wieder, da er deren Ziel, die nationalsozialistische Umgestaltung der Evangelischen Kirche nicht mittragen konnte.  In unserem Zusammenhang ist die Feststellung wichtig, dass Kalisch mit diesen Verweisen keinerlei Belege verbindet, die der Eigenständigkeit der Kirchen im Arbeitsrecht das Wort reden. Immer deutlicher wird vielmehr sein Motivwechsel und dazu passt nur noch eine Argumentation in schwarz und weiß.

Jetzt muss sogar der Mythos des „Kirchenkampfes“ herhalten. Und schließlich sieht er in dem Nachkriegsbemühen der Diakonie, ihre frühere Distanz zur verfassten Kirche aufzugeben (Diakonie als „Wesensäußerung“ der Kirche) ein weiteres bedeutsames Zeichen der Veränderung, um auch die diakonische Mitarbeiterschaft in ein kirchliches Dienstrecht einzubinden.[55] Für Kalisch ist es ausgemacht, dass sich bereits wenige Jahre nach Kriegsende im völlig zerstörten Deutschland ein neues   „Verständnis vom Wesen und Auftrag der Kirche“ formiert hat, obwohl sich die Theologen in der Frage eines eigeständigen Dienstrechtes auffällig zurückhielten.

Maaser nimmt in seinem bereits erwähnten Beitrag dessen Sichtweise kritiklos auf (damit wird die nationalsozialistische Ideologie in Kalischs Doktorarbeit verdunkelt) und zeichnet nach, wie dieser nunmehr mit Verweis auf Kirchenkampf, dialektische Theologie und neutestamentliche Bibelstellen die Besonderheit des kirchlichen Dienstes christologisch entfaltet und den Begriff der Dienstgemeinschaft einführt.

Dazu Maaser: „Dienstgemeinschaft bedeutet nun nicht mehr die gesteigerte Solidarität einer durch das Führerprinzip strukturierten Volksgemeinschaft, sondern wird zur besonderen Signatur kirchlichen Seins, das sich von den staatlichen Regelungsverfahren unterscheidet.“[56]  Mit diesem Satz wird die Dienstgemeinschaft nicht nur mystifiziert, schlimmer ist, dass Maaser offensichtlich die NS- Ideologie nicht verstanden hat. Denn abgesehen von der Frage, ob der Begriff Solidarität steigerungsfähig ist, sind Volksgemeinschaft und Solidarität unvereinbare Begriffe.

Wir halten fest: Werner Kalisch, der vormals glühende Verfechter des Führerkultes und der Ideologie der Deutschen Christen begründet nunmehr den Begriff der Dienstgemeinschaft und die Forderung nach einem eigenständigen Arbeitsrecht der Kirche mit Entwicklungen, die bereits im Kirchenkampf, der Bekennende Kirche, der dialektischen Theologie angelegt seien,  sowie mit dem Auftrag der Kirche, wie er Neuen Testament entfaltet werde. Explizit führt er das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt.20,1-16) und die Bibelstelle (Eph4,15,16)  –Christus als Haupt der Kirche – an.

Sein Credo: „Das kirchliche Dienstrecht ist weder Arbeitsrecht noch öffentliches Recht, sondern Kirchenrecht.“ [57] Und er fügt hinzu, dabei sei selbstverständlich die sozialstaatliche Ordnung der neugegründeten Bundesrepublik Deutschland als Schrankenvorbehalt in der Ausgestaltung des Kirchenrechts zu berücksichtigen.

Im weiteren Verlauf der Arbeit befasst sich Kalisch mit Details des kirchlichen Dienstrechtes. Er differenziert nach Dienstrecht für die Geistlichen und Kirchenbeamten sowie dem Dienstrecht der Bediensteten in der Kirche und in ihren Werken. Im Öffentlichkeitscharakter des Dienstes der Geistlichen sieht er den wesentlichen Unterschied zum Priestertum aller Gläubigen. Daraus resultierten besondere Anforderungen der Kirche an ihre Pfarrer, die weit über die Ausbildung hinausgingen und auch den Lebenswandel, den Ehekonsens, den Vorbildcharakter des Pfarrhauses, Fragen von Lehrzucht und politischer Betätigung mitumfassten (heute unter dem Stichwort Loyalitätspflichten diskutiert). Auch wenn die Dienstrechtregelungen für die anderen Mitarbeiter weiter gefasst werden könnten, so greife doch auch hier das kirchliche Dienstrecht. Alle Beschäftigten, gleich ob Pfarrer, Kirchenmusiker, Gemeindeschwester, Bürokraft oder „Arbeiter auf kirchlichen Gütern“  gehörten  zur Dienstgemeinschaft.

Von daher könne es im Bereich der Kirche keine Tarifverträge geben. Das „Institut des Tarifvertrages“ entstamme einer „säkularen Vorstellungswelt“, das werde insbesondere am „Kampfmittel des Streiks“ sichtbar.

„In der Kirche kann es  keinen Streik geben, weil Christus der Herr der Kirche und alle Diener der Kirche im Dienste der Kirche stehen.[58]

Diese Formulierung hat Kalisch in seiner Doktorarbeit von 1940 in ähnlicher Form auch schon gebraucht. Nur fehlt jetzt der zweite Teil seiner damaligen Begründung: „Aber der Auftrag Christi weist ihn hin zu dem Dienst an seinem Volk, als einer in Gottes Schöpferwillen begründeten Ordnung, in das er hineingeboren ist.“

In diesem Zusammenhang argumentiert er nicht nur theologisch, sondern auch wieder verfassungsrechtlich im Rückgriff auf Artikel 137 III WRV: Das Tarifvertragsgesetz hat den Kirchen gegenüber nicht das Gewicht eines für alle geltenden Gesetzes.[59] Zuvor hat er, wie bereits erwähnt, alle individuellen Grundrechte von dem Schrankenvorbehalt ausgeschlossen. Dazu zählen im hier diskutierten Zusammenhang das Recht auf Koalitionsfreiheit und damit auch das Streikrecht. Im Hinblick auf den Schrankenvorbehalt, vertritt Kalisch die Position von J. Heckel, der Staat und Kirche „prinzipiell als gleichgeordnete Mächte“, die sich trotz unterschiedlicher Aufgabenstellungen“ gegenseitig respektieren. Nach Heckel sind es „Regelungen, die für das gesamte Rechtswesen, den Gesamtstaat unentbehrlich sind, die den Schrankenvorbehalt ausmachen und somit auch die Kirchenfreiheit einschränken“. Heckel vertritt also eine dezidiert institutionelle Sichtweise, bei der die individuellen Freiheitsrechte unter den Tisch fallen. Dieses Verständnis ist für die Kirchen nach wie vor dominant, obwohl die juristische Diskussion längst darüber hinweggegangen ist.

Auch in dieser so wichtigen Frage übernimmt Maaser kritiklos die Position Kalischs. Neuere Entwicklungen, wie sie in der sogenannte „Jedermann Formel des BVG oder der „Güterabwägung“ zum Tragen kommen, in der die Kirchenfreiheit einerseits und die damit kollidierenden Rechte Dritter andererseits ins Verhältnis gesetzt werden, bleiben ausgeblendet. Da verwundert es nicht, wenn Bernhard Schlink, em. Prof. für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie, den Kirchen ein „eigentümlich usurpatorisches Verständnis der eigenen Angelegenheit, das Art. 137 Abs.3 Satz 1 WRV damit unterlegt wird“ bescheinigt.[60] Diese anmaßende, widerrechtliche Machtausübung wird für Jedermann sofort nachvollziehbar, wenn  – wie häufiger geschehen –  die Trägerschaft einer Kindertagesstätte, eines Jugend-heimes oder eines Krankenhauses von der Kommune auf die Kirche oder die Diakonie übergeht. Tarifverträge, Streikrecht, Mitbestimmung gelten dann nicht mehr. Stattdessen greifen umfangreche Loyalitätsrichtlinien. Aus Arbeitnehmerrinnen und Arbeitnehmern werden über Nacht „Dienerinnen“ und „Diener“ in einer Dienstgemeinschaft (die Begriffe Arbeitnehmer, Angestellter hält Kalisch für unangemessen, „weil sie dem weltlichen Recht angehören“[61]). Und weil sich in dieser Gemeinschaft die Machtfrage in Luft aufgelöst hat, „weil Christus der Herr der Kirche ist und alle Diener der Kirche im Dienste Christi stehen, kann es keine Streiks geben.[62]

2018 fällte der EuGH zwei spektakuläre Urteile (siehe: Chefarzt Urteil und der Fall Egenberger).  In diesem Zusammenhang sah sich der Gerichtshof veranlasst, die Kirchen in Deutschland zu verpflichten, die individuellen Grundrechte, sowie die Gewissens-und Glaubensfreiheit ihrer Beschäftigten zu achten.[63] Die Diakonie reagierte im Fall Egenberger mit einer Verfassungs-beschwerde beim BVG.

  • Zusammenfassung und Bewertung

Zwei Arbeiten, ein Thema; zwei getrennten Welten, ein Verfasser. In der ersten Arbeit aus dem Jahr 1940 präsentiert sich Kalisch als treuer Gefolgsmann des Nationalsozialismus und als Deutscher Christ. Die Weimarer Republik wird als Zwischenreich bezeichnet, in dem es zu einem folgenschweren Dammbruch im Verhältnis von Staat und Kirche komme. In der Trennung, festgeschrieben in Art.137 Abs.1 WRV, sieht Kalisch das böse Werk jüdisch-bolschewistischer Kräfte. Stärker lässt sich die völlige Ablehnung des demokratischen Rechts-staates nicht ausdrücken. Der NS-Staat bewahre die Kirche vor der sektenhaften Zersplitterung. Die Deutsche Evangelische Kirche sei Teil der Volksgemeinschaft. Der evangelische Pfarrer diene immer zugleich seinem „Herrn Jesus Christus und seinem Volk“. Dem Führer verpflichte er sich zu „Treue und Gehorsam“.

In der zweiten Arbeit aus dem Jahr 1952 argumentiert Kalisch nicht mehr in den Schemata der Deutschen Christen: völkisch-national und antijüdisch, sondern staatsrechtlich und theologisch. Er nimmt Bezug auf Art.137 Abs.1 und 3 WRV  in Verbindung mit Art.140 GG und leitet jetzt aus der Neutralität des Staates gegenüber den Religionsgemeinschaften auch deren Recht auf ein eigenständiges Dienstrecht ab. In Anlehnung an den Staatsrechtler Heckel sieht Kalisch im sogenannten Schrankenvorbehalt kein Hindernis. Dass die Kirchen in der Zeit der Weimarer Republik Tarifverträge abgeschlossen haben, leugnet er zwar nicht, sieht darin aber keine Angriffsfläche. Indem er nunmehr theologisch argumentiert, versucht er die Kirche gegen Angriffe von außen zu immunisieren.

Eklektisch führt er die dialektische Theologie, den Kirchenkampf, das neue Selbstverständnis der Diakonie an, um die in der Vergangenheit verdunkelte Erkenntnis wieder an Licht zu holen: „Das in allen noch so verschiedenen Funktionen des einen Dienstes in der Kirche und ihren Werken lebendige Bezeugen der frohen Botschaft verbindet alle die darin Stehenden zu einer großen Gemeinschaft des Dienstes.“[64] Aus der so gefassten Dienstgemeinschaft ergebe sich nunmehr die Verpflichtung der Kirche, ein eigenständiges kirchliches Dienstrecht zu gestalten. Folgen wir der Gestaltungsperspektive Kalischs, dann heißt Dienstgemeinschaft: Abwesenheit von Gewerkschaften, keine Betriebsräte, keine Tarifautonomie, keine Tarifverträge, kein Streikrecht, sondern religiös überhöhtes Gefolgschaftsprinzip und Steuerung allein durch die Kirche in Verbindung mit je nach Berufsgruppen enger oder weiter gefassten Loyalitätsrichtlinien.[65] Wir stellen fest, die nationalsozialistische Dienstgemeinschaft von 1934 weist in der Fassung von 1952, abgesehen von der völkischen Einbindung, exakt dieselben Eckpunkte auf. Sie ist antidemokratisch, antigewerkschaftlich und basiert auf einem durch Misstrauen gekennzeichneten Menschenbild.

Sicherlich stellt Kalisch in der langen Liste der Juristen, Mediziner, Pädagogen, Theologen mit brauner Vergangenheit keine Ausnahme dar. Die übergroße Mehrheit war nicht in der Lage, ihre Haltung und die aktive Unterstützung des nationalsozialistischen Unrechtsstaates durch ein klares Schuldbekenntnis einzugestehen. Umso mehr verbietet es sich von selbst, Kalischs Arbeit aus dem Jahr 1952 – wie oft geschehen – losgelöst von seiner Doktorarbeit aus dem Jahr 1940 zu bewerten. Kontinuitätslinien sind unverkennbar, seine große Anpassungsfähig- keit ebenso. 

Vor diesem Hintergrund ist es ein besonders trauriges und beschämendes Kapitel, dass Kirchenführer mit antidemokratischer, antijüdischer Gesinnung den Sonderweg der Kirchen in der Arbeitsrechtssetzung bestimmen konnten. Eine Kirche, die diese Zusammenhänge verschleiert, untergräbt ihre eigene Glaubwürdigkeit.

Anmerkungen

[1] Chapoutot, Johann: Gehorsam macht frei. Eine kurze Geschichte des Managements – von Hitler bis heute, Berlin 2021.

[2] Kühl, Stefan: Führen auf Harzburger Art. SZ,29.März 2021, S.12.

[3] Vgl. Reinhard Höhn – Wikipedia; Harzburger Modell – Wikipedia

[4] Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914-1949, Frankfurt a.M., 2003, S.417.

[5] www.deutschlandfunk.de/evangelischer-bischof-dibelius-eine-uebergrosse-politi.886.de.html ; Abruf: 29.09.2021.

[6] Vgl. Gailus, Manfred: Otto Dibelius im Jahr 1933 – ein zögerlicher preußischer Kirchenführer zwischen Weimar und Hitler. Vortrag im Rahmen der Reihe Lernort Garnisonskirche der Martin- Niemöller-Stiftung, 14. Sept. 2021 (PDF- Internet).

[7] Vgl. Gailus, Manfred: Otto Dibelius im Jahr 1933. univideo.uni-kassel.de/video/Otto-Dibelius-im-Jahr-1933-in-Potsdam-zwischen-Weimar-und-Hitler-Vortrag-vom-14092021/13/54cbc24691e47fa135085317305c3218. Zugriff 01.11.2021.

[8] Vgl. Gundlach, Jens: Heinz Brunotte 1896-1984, Anpassung des Evangeliums an die NS-Diktatur. Eine biographische Studie, Hannover 2010.

[9]  Ebd. S.474

[10] Smolarski, Rene: Verantwortung im eigenen Interesse. Wege direkter Einflussnahme der Evangelischen Kirche auf die Ausgestaltung des Betriebsverfassungsgesetzes von 1952. In: Albrecht, Christian; Anselm Reiner(Hg.): Aus Verantwortung, Tübingen 2019. S. 35-56

[11] Ebd.S.53

[12] Einige berufliche Stationen des Juristen Hansjürg Ranke: 1933 Konsistorialassistent in der Kirchenkanzlei der DEK in Berlin; 1933-1945 Mitglied der SA (seit1943 im Rang eines Oberscharführers); ab 1937 Mitglied der NSDAP; 1939 –1945 Wehrdienst und Kriegsgefangenschaft in Frankreich und England; 1946 Sachbearbeiter für Nachkriegsfragen der Kirchenkanzlei der EKD; 1949 -1960 Geschäftsführer der Kammer für soziale Ordnung der EKD; 1950 Berufung in die Außenstelle des Rates der EKD in Bonn als Oberkirchenrat

[13] Smolalarski, a.a.O. S.51f

[14]  Ebd. S.39

 [15] Ebd. S.39

 [16] Der Jurist Otto von Harling trat 1933 in den Stahlhelm ein, wurde im selben Jahr Mitglied der SA; von 1934 an war er Mitglied im Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund (NSRB) und ab 1937 Mitglied der NSDAP; 1946 wurde er Referent der Kirchenkanzlei der EKD und 1950 Oberkirchenrat der EKD. Vgl. Internet: wiki.de.dariah.eu/display/1P/Harling%2C+Otto+von; Zugriff 01.06.2021.

 [17] Zit. n. Smolarski, a.a.O. S.42

[18]  Niedersächsisches Landesarchiv Hannover: Entnazifizierungsakte (NDS 171, Nr.63824 und 71538), ausgestellt am 10. November 1947.

[19]  Marin Luther Universität Halle: Promotionsakte (Lebenslauf); übermittelt am 10. Mai 2021.

[20] Hempel, Johannes: Die Dienstgemeinschaft und das Individualrecht der evangelischen Kirche. In: ZevKR 66(2021), S.117-148.

[21] Doktorvater war der Staats-und Kirchenrechter Prof. Dr. jur. Gottfried Langer. Langer war von 1937-1945 oProf. Für Staatsrecht, Kirchenrecht, Deutsche Rechtsgeschichte und Völkerrecht an der Universität Halle. Langer war Mitglied des NSV, des Stahlhelms, der NSDAP(seit1933), im RDB, NS-Reichskriegerbund; nach dem Krieg wurde Langer Mitglied der SED und des FDGB. Er verstarb 1979 in Halle an der Saale.

[22] Kalisch, Werner: Die öffentlich-rechtliche Stellung des preußischen evangelischen Pfarrers vom allgemeinen Landrecht bis zur Gegenwart, Halle 1941.

[23] Kilian, Michael: Die hallischen Staatsrechtslehrer in der Zeit des Nationalsozialismus, S. 59. In: Heiner Lück; Armin Höland (Hg.): Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg im Nationalsozialismus, Halle an der Saale 2011.

[24] Die Angaben stützen sich auf eine Mitteilung des Niedersächsischen Landesarchivs, Hannover vom 25. Mai 2021.

[25] Georg-August-Universität Göttingen-Staats-und Universitätsbibliothek, Nachlass R.Smend: Cod­_MS_R_Smend_Q22_Bl_15

[26] Eine Anfrage beim Kirchenrechtlichen Institut der EKD beantwortet der Leiter, Prof. Dr. Hans Michael Heinig, mit den Worten: „Da können wir leider nicht weiterhelfen.“ Dies ist insofern verwunderlich, da Kalisch nach einer Information des landeskirchlichen Archivs, Hannover seit Anfang der 50iger Jahre für das Institut gearbeitet haben soll. Ebenso erfolglos blieb eine Anfrage beim Evangelischen Zentralarchiv in Berlin. Weder gibt es dort eine Personalakte Kalisch noch gibt es Hinweise auf Kalisch in den Referatsverteilungsplänen und auch in den allgemeinen kirchlichen Nachschlagwerken ist der Name nicht vermerkt.

[27] Kalisch, Werner: Grund-und Einzelfragen des kirchlichen Dienstrechts. In: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, Bd.2,1952, S.24-63. Kopie durch EZA, Berlin. In einer Fußnote zum Titel steht die Anmerkung: „Aus einer ungedruckten Festgabe von Schülern und jungen Freunden zum 70.Geburtstag von Rudolf Smend.

[28] Kalisch, a.a.O.S.40f

[29] Kalisch zitiert den Leipziger Öffentlichkeitsrechtler Gottfried Langer, der 1937 einen Ruf an die Universität Halle-Wittenberg erhielt. Im gleichen Jahr mussten zwei Professoren (Georg Jahn und Arthur Wegner) wegen „jüdischer Versippung“ die Fakultät verlassen (Der Hinweis stammt von Kilian, M., a.a.O. S.59).

[30] Kalisch, a.a.O. S 41f

[31] Kalisch, a.a.O. S.44

[32] Ebd. S.44

[33] Ebd. S.44

[34] Ebd. S.43

[35] Ebd. S.46

[36] Ebd. S.51

[37] Ebd. S.68

[38] Ebd. S.69

[39] Ebd. S.70

[40] Ebd. S.71

[41] Ebd. S.71

[42] Rückert, Johannes: Zwölf Jahre „Dienst am Recht“, S.136. In: Heiner Lück; Armin Höland: Die Rechts-und Staatswissenschaftliche Fakultät der Martin – Luther – Universität Halle – Wittenberg im Nationalsozialismus, Halle an der Saale 2011.

[43] Vgl. Kalisch, S.43ff

[44] A.a.O.S.71

[45] Reifner, Udo: Gemeinschaftsdenken und Kollektiv im Faschismus. In: Klaus Holzkamp (Hg) Forum Kritische Psychologie 9, Argument Sonderband 72; Berlin 1981. S.171-180, hier: S.172

[46] Vgl. Maaser, Wolfgang:: Dienstgemeinschaft als Begriff des kirchlichen Arbeitsrechts, S.366-370. In: Johannes Eurich, Wolfgang Maaser (HG): Diakonie in der Sozialökonomie, Leipzig 2013.

[47] Kalisch,1952, a.a.O., Fußnote S.24

[48] Die Autoren Sebastian Schwab und Mattis Bieberle-Aumann schreiben in ihrem Beitrag: Rudolf Smend: Göttinger Gelehrter wider Willen (Göttinger Rechtszeitschrift 1/2021:88-90) “Zwar war er kein Mitglied der NSDAP, ebenso wenig aber glühender Demokrat. Er sympathisierte mit den Ideen des Faschismus und sei von der Gestapo als verlässlich erachtet worden“ Und der Sozialethiker Hartmut Kreß resümiert: “gegenüber dem Ideal der freiheitlichen Demokratie blieb Smend zögerlich und sehr ambivalent.“ (vgl. Kress, Hartmut: Politische Ethik im Umbruch des modernen Staates, Stuttgart 2018, S.78.

[49]  A.a.O. S.24

[50] A.a.O.S.27b

[51]Anmerkung: Heckel war Sohn eines Evang. Pfarrers, studierte Jura in München und hatte nach seiner Habilitation eine Privatdozentur für Kirchenrecht in Berlin inne. 1928 wurde er als Prof. für öffentliches Recht und Kirchenrecht nach Bonn berufen. 1934 wechselte er an die Universität München.  Dort wurde er 1957 emeritiert. Mit seinen Ausführungen zur Trennung von Staat und Kirche gemäß der Weimarer Verfassung hat sich Heckel bis in die Nachkriegszeit einen Namen gemacht. In dieser Frage war er erklärter Gegner des nationalsozialistischen Staatsrechtlers Carl Schmitt. Von daher verwundert es nicht, dass Kalisch in seiner Doktorarbeit zwar mehrfach Schmitt aber nicht einmal auf Heckel Bezug nimmt, obwohl dieser mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten die „Fahnen“ wechselte, Berater von Reichsbischof Müller wurde, vehement für das „Führerprinzip“ stritt und 1933 zu den Gründungsmitgliedern der nationalsozialistischen Akademie für Deutsches Recht zählte.

[52]Heckel, Johannes: Das staatskirchenrechtliche Schrifttum der Jahre 1930 und 1931; Verwaltungsarchiv 37 (1932) S.283; zit. n. Kalisch a.a.O.  S.27.

[53] Vgl. S. 30

[54] Vgl. S. 30

[55] Vgl. S. 30

[56] Maaser, a.a.O. S.368

[57] Kalisch, a.a.O. S.32

[58] A.a.O. S.58

[59] A.a.O. S. 61

[60] Schlink, Bernhard: Die Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften. Juristen Zeitung 68 (5) 2013, 209-218, hier S.212.

[61] Kalisch, a.a.O. S.50

[62] A.a.O. S.58

[63] Vgl. Kreß, Hartmut: Das Arbeitsrecht der Kirchen im Gesundheits-und Sozialwesen. In: Jahrbuch für

    Wissenschaft und Ethik, Bd. 24 (2019); Berlin/Boston 2021, S.79-11, hier S.82f.

[64] A.a.O. S.31

[65] Vgl. Belitz, Wolfgang; Klute, Jürgen; Schneider, Hans –Udo; Wendt-Kleinberg, Walter: Verhängnisvolle

    Dienstgemeinschaft – Abrechnung mit einem nationalsozialistischen Begriff in den Kirchen in Deutschland, 2020.

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