Die katastrophalen gesellschaftlichen Wirkungen des kirchlichen Sonderarbeitsrechts

Von Jürgen Klute

[2 Updates: 22.07.2020]

Am 7. Juli und am 8. Juli 2020 sind an ganz unterschiedlichen Orten zwei Artikel zu Konsequenzen aus der Corona-Krise erschienen. Liest man die beiden Artikel im Zusammenhang, dann führen sie das Verhängnisvolle der „Dienstgemeinschaft“ noch einmal sehr deutlich vor Augen. Und damit wird ebenfalls deutlich, dass das Thema „Dienstgemeinschaft“ bei weitem kein innerkirchliches Thema ist, sondern ein hochbrisantes gesamtgesellschaftliches, dem die Kirchen in der Bundesrepublik sich endlich und zügig stellen müssen.

Bei dem Artikel vom 7. Juli 2020 handelt es sich um ein Interview mit der Soziologin Friedericke Hardering, das von der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht wurde („Wir wissen das schon seit Jahrzehnten“). In dem Interview geht es um die Frage, weshalb „ausgerechnet die am schlechtesten bezahlt (werden), die am meisten für die Gesellschaft leisten“. Haderings kurze und prägnante Antwort lautet: „Eine der wichtigsten Maximen der deutschen Politik lautet: Deutschland soll ein starker Wirtschaftsstandort sein. Diesem Interesse wird vieles untergeordnet. Deshalb wird der Gesundheitssektor auch eher vernachlässigt als beispielsweise die Automobilindustrie.“ Das, so Hadering weiter, sei aber seit Jahrzehnten bekannt. Deshalb glaubt die Soziologin auch nicht, dass sich daran in nächster Zeit etwas ändern wird.

Nun, so heißt es in einem Artikel in Die Zeit vom 8. Juli 2020, soll nicht einmal die während des Lockdowns zugesagte Prämie an alle Pflegekräfte ausgezahlt werden.

Ganz anders die Situation in Belgien, wie einem Artikel auf dem deutschsprachigen Nachrichtenportal Flanderninfo vom 8. Juli 2020 zu entnehmen ist. Unter der Überschrift „Sozialabkommen: 6 % mehr Lohn für das Pflegepersonal in Belgien“ berichtet das belgische Nachrichtenportal von kräftigen Lohnerhöhungen im belgischen Krankenhaussektor, die im Durchschnitt 6 % betragen und die noch vor der Sommerpause in Kraft treten sollen. Es gibt allerdings nicht nur Lohnerhöhungen. Zudem sollen bis zu 4.000 neue Stellen geschaffen werden, um die Arbeitsbedingungen in Krankenhäusern familienfreundlicher zu gestalten.

Für diese Verbesserungen der Arbeitsbedingungen plant der belgische Staat zum einen, 600 Millionen Euro zunächst für Jahre zur Verfügung zu stellen. Zudem wurde bereits ein Pflegepersonalfond in Höhe von 400 Millionen Euro jährlich bereitgestellt. (Update 1 vom 22.07.2020: Der Gesundheitsminister der belgischen Region Flandern, Wouter Beke, kündigte laut Flanderninfo vom 20. Juli 2020 an, “die Lohn- und Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte in Seniorenheimen zu verbessern und diese an das Pflegepersonal in Krankenhäusern anzupassen.”)

Diese Verbesserungen gelten zunächst nur für die Krankenhäuser, da sie in die Zuständigkeit des belgischen Föderalstaates fallen. Pflege- und Altenheime fallen hingegen in die Zuständigkeit der Regionalparlamente und Parlamente der Sprachgemeinschaften. Die werden sich aber nicht den Vorgaben der föderalen Ebene entziehen können und müssen in den nächsten Monaten wohl nachziehen mit Lohnerhöhungen und Verbesserungen der Personalausstattung.

Hier stellt sich nun die Frage, weshalb in der Bundesrepublik, wie Hardering betont, seit Jahrzehnten keine Verbesserungen der Arbeitsbedingungen im Gesundheits- und Sozialbereich stattfinden und in Belgien innerhalb weniger Wochen Lohnerhöhungen, von denen in der Bundesrepublik nur geträumt werden kann, durchsetzbar sind und auch eine beachtliche Stellenausweitung zur Entlastung des jetzigen Personals.

Die Antwort ist simpel. In Belgien gibt es auch im Gesundheits- und Sozialbereich handlungsfähige Gewerkschaften. In der Bundesrepublik fordert die zuständige Gewerkschaft Verdi – mit Unterstützung der Linken – zwar schon lange Verbesserungen der Arbeitsbedingungen in diesem Sektor. Nur der Organisationsgrad in diesem Sektor ist viel zu gering, um den nötigen politischen Druck erzeugen zu können.

Dass das so ist, wie es ist, hat eine eindeutige Ursache: die Kirchen. Die Kirchen dominieren den Gesundheits- und Sozialsektor in der Bundesrepublik. Etwas 1,5 Millionen Beschäftigte zählen die Kirchen und vor allem die kirchlichen Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie.

Die Kirchen als zweitgrößter Arbeitgeber nach dem öffentlichen Dienst unterliegen aber nicht dem regulären Arbeitsrecht in der Bundesrepublik. Vielmehr haben sie unter der Führung der evangelischen Kirchen in der Gründungsphase der Bundesrepublik für sich einen arbeitsrechtlichen Sonderweg durchgesetzt. Dieser arbeitsrechtliche Sonderweg der Kirchen, den es so in keiner anderen europäischen Gesellschaft gibt, firmiert unter dem Titel „Dritter Weg“ und ist charakterisiert durch das Konzept der „Dienstgemeinschaft“.

Der Begriff „Dienstgemeinschaft“ ist dem nationalsozialistischen Arbeitsrecht entnommen. Ebenso das gesamte Konzept, das ab 1934 durchgesetzt wurde. Kernpunkte waren die Zerschlagung der Gewerkschaften und die Durchsetzung des Führerprinzips in den Betrieben der Privatwirtschaft („Betriebsgemeinschaft) und des öffentlichen Dienstes („Dienstgemeinschaft“). Mehr zu den historischen Hintergründen findet sich in der Eingabe an die Kirchenleitung der Evangelischen Kirchen von Westfalen: „Verhängnisvolle Dienstgemeinschaft“.

Mit der Übernahme dieses Konzeptes haben die Kirchen vor allem die Gewerkschaften und eine Unternehmensmitbestimmung aus kirchlichen Einrichtungen bzw. Unternehmen herausgehalten. Und an Stelle von Tarifverhandlungen und Streik gibt es in kirchlichen Einrichtungen eine so genannte Zwangsschlichtung.

Unter diesen Bedingungen konnte sich nie eine umfassende gewerkschaftliche Organisierung der Mitarbeitenden in diesem Sektor entwickeln.

In den 1950er Jahren hatte das noch keine große gesellschaftliche Relevanz. Mittlerweile ist der Gesundheits- und Sozialsektor aber zu einem der größten Beschäftigungssektoren geworden und die Kirchen – vor allem die kirchlichen Wohlfahrtsverbände – sind nach dem öffentlichen Dienst der zweitgrößte Arbeitgeber in der Bundesrepublik geworden.

Hinzukommt, worauf Friedericke Hadering in ihrem Interview mit der Süddeutschen Zeitung verweist: „Gerade in der Pflege gibt es hohe Burnout-Raten. Ihre Arbeit ist den Beschäftigten sehr wichtig und gleichzeitig sind die Rahmenbedingungen schlecht. Das kann gefährlich werden, körperlich, aber auch mental. Der Ethnologe David Graeber geht sogar davon aus, dass manche Tätigkeiten besonders schlecht bezahlt werden, weil man weiß, dass man immer jemanden findet, der den Job aus einer gesellschaftlichen Verantwortung heraus machen wird. Im Zweifel sogar, ohne dafür Geld zu bekommen.“

Gerade diese von Graeber beschriebene Haltung wird von einem fragwürdigen kirchlichen Verständnis von Nächstenliebe untermauert und gefördert. Dass Pflege- und soziale Arbeit Teil gesellschaftlicher Arbeitsteilung ist und somit eben vor allem auch Erwerbsarbeit, wird unter dem Vorzeichen der Nächstenliebe ausgeblendet. Das führt aber dazu, wie Friedericke Harding sehr treffend beschreibt, dass letztlich unter dem Deckmantel der Nächstenliebe ausbeuterische Arbeitsverhältnisse organisiert werden. Und deren Organisatoren – das ist an dieser Stelle zu ergänzen – sind die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände mit ihrem nationalsozialistischen Arbeitsrechtskonstrukt der „Dienstgemeinschaft“.

Dass das der exportorientierten deutschen Wirtschaft und der Logik der Schröderschen Agenda-Politik sehr entgegenkommt – werden doch hier mit kirchlicher Unterstützung die so genannten Lohnnebenkosten im Sozialbereich niedrig gehalten, sei hier nur am Rande erwähnt. Das mag aber erklären, weshalb auch in der SPD dieser hauptsächlich von den Kirchen zu verantwortende Skandal kaum Gegenreaktionen und Proteste auslöst und Ver.di als zuständige Gewerkschaft für diesen Bereich gesellschaftlich ziemlich isoliert ist im Kampf um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen im genannten Bereich. (Aktualisierung vom 22.07.2020)

Zumindest die evangelischen Kirchen sind sich dieses Problems durchaus bewusst. In der Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) von 2015 „Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt“ formuliert die EKD eine Würdigung des Streiks, die auch in Kirche und Diakonie zu neuem Nachdenken führen sollte: „Der Streik ist kein Selbstzweck. Er dient der Erzwingung einer Einigung, die sonst blockiert wäre. Insofern manifestiert sich im Streikrecht die Zivilisierung des Konflikts … Sozialethisch ist das Streikrecht deswegen von hoher Dignität, da es die Schwächeren im Konflikt schützt.“ (S. 80) Aus dieser Würdigung folgt für die Denkschrift die Forderung: „Ein allgemein verbindlich geltender Flächentarifvertrag Soziale Dienste ist eine … wichtige Option.“ (S.129)

Die Corona-Krise hat die seit Jahrzehnten bekannten und ignorierten Probleme des Gesundheits- und Sozialsektors in den öffentlichen Fokus gerückt. Die beiden großen Kirchen in der Bundesrepublik müssen sich jetzt darüber klar sein, dass sie mit ihrem arbeitsrechtlichen Sonderweg die Hauptverantwortung für einen gesamtgesellschaftlichen Missstand tragen (zu den Missständen vgl. das Interview mit dem Frankfurter Arzt Bernd Hontschick in der Frankfurter Rundschau vom 24. Juni 2020).

Bundestag, Wirtschaft und und die bundesdeutsche Rechtssprechung haben mit Blick auf die deutschen Exporte (die nebenbei bemerkt im Zentrum der EU-Krise stehen) kein Interesse daran, diesen Missstand zu beseitigen. Die beiden großen Kirchen haben aber die Möglichkeit, die Voraussetzungen für eine starke Interessenvertretung der Beschäftigten in diesem Sektor zu schaffen, indem sie auf ihren arbeitsrechtlichen Sonderweg, der auf eine Schwächung der Gewerkschaften zielt, verzichten und sich damit endlich von diesem unsäglichen nationalsozialistischem Erbe emanzipieren. Das entspräche den oben zitierten Einsichten der EKD-Denkschrift von 2015.

Durch Symbolpolitik lassen sich die Missstände im Gesundheits- und Sozialsektor nicht verändern. Dazu bedarf es einer gesellschaftlichen Machtverschiebung, die es ohne Gewerkschaften nicht geben wird. Es reicht nicht, dass die Kirchen über gesellschaftliche Verantwortung nachdenken, sie müssen sie auch wahrnehmen dort, wo sie als dominante Akteuere in der Gesellschaft aktiv sind.

In den Verhandlungen in der ersten Hälfte der 1950 Jahre zur Durchsetzung des arbeitsrechtlichen Sonderweges der Kirchen betonte der damalige Präsident der EKD Kirchenkanzlei Heinz Brunotte gegenüber der Adenauer-Regierung: „Das die Kirche hierbei allen berechtigten sozialen Anforde-rungen gegenüber den bei ihr Beschäftigten in vollem Umfange nachkommt, ist selbstverständlich.“ (Heinz Brunotte als Präsident der EKD Kirchenkanzlei in einem Brief an den damaligen Bundesarbeitsminister vom 12. 06. 1950). Und wenig später bekundete Rechtsanwalt Eichholz, der die Innere Mission im Rahmen der Verhandlungen zum Bundespersonalvertretungsgesetz vertrat: „Gerade aus dem Geist der Dienstgemeinschaft heraus sind wir nicht bestrebt, weniger als die anderen zu tun.“ (Kurzprotokoll der 15. Sitzung des Unterausschusses Personalvertretung vom 20. September 1954 in Bonn, Deutscher Bundestag.)

Die beiden Kirchenvertreter haben der Adenauer-Regierung zugesagt, auf keinen Fall hinter den Arbeitsbedingungen in der freien Wirtschaft zurückzubleiben. Wenn diese Zusage noch immer gilt, dann reicht es unter den heutigen Bedingungen im Gesundheits- und Sozialsektors nicht mehr aus, dass die Kirchen auf ihren gewerkschaftsfeindlichen arbeitsrechtlichen Sonderweg verzichten, sondern sie müssen zudem eine vollständig paritätische Unternehmensmitbestimmung einführen, weil es sich hier um eine gesellschaftliche Aufgabe handelt, wie in dem oben erwähnten Interview mit Bernd Hontschick in der Frankfurter Rundschau dargelegt wird, und sie müssen sich dafür einsetzen, dass der Gesundheits- und Sozialsektor nicht weiterhin einer marktwirtschaftlichen Logik unterworfen wird, sondern wieder der Logik der öffentliche Daseinsvorsorge folgt.

Das ergibt sich aus den Erfahrungen der Corona-Krise.

Update 2 vom 22.07.2020

Untermauert wird meine oben dargelegte Argumentation durch ein Interview des Magazin DER SPIEGEL vom 22.07.2020 mit Hermann Reichenspurner, dem Direktor an der Uniklinik Hamburg-Eppendorf: Fehler im Corona-Krisenmanagement: „Es ist ganz viel über angeblich fehlende Beatmungsgeräte geredet worden“. Nicht fehlende Technik, so Reichenspurner, sei das Problem, sondern Personalmangel in der Pflege – und der Grund dafür: zu niedrige Löhne, schlechte Arbeitsbedingungen, keine starken Gewerkschaften in diesem Sektor. Für das Fehlen starker Gewerkschaften im Sozial-, Gesundheits- und Pflegesektor tragen aber die Kirchen mit ihrem dem Nationalsozialismus entlehnten Arbeitsrecht („Dienstgemeinschaft“) die Hauptverantwortung. Ändern wird sich das erst, wenn sich die Kirchen von dem Erbe der nationalsozialistischen Dienstgemeinschaft emanzipieren. Ohne gesellschaftlichen Druck wird das allerdings nicht passieren.

Ein Gedanke zu „Die katastrophalen gesellschaftlichen Wirkungen des kirchlichen Sonderarbeitsrechts“

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